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Adeline
Eine Familiengeschichte aus Böhmen 1. Kapitel Pauline Lorenz
2. Kapitel Otto Sebastian Lorenz 3. Kapitel Das Elternhaus 4. Kapitel Das Kalenderjahr 5. Kapitel Dr. Karl Lorenz 6. Kapitel Die Zincke Großeltern 7. Kapitel Rinka Lang 8. Kapitel Karl Theodor Lang 9. Kapitel Onkel Arnold 10. Kapitel Arthur Lorenz
11. Kapitel Maria Josepha Elisabeth 12. Kapitel Adeline 13. Kapitel Karl Lang |
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1. Kapitel Pauline Lorenz München, den 15.3.1955Die erste Seite meines Buches soll dem Andenken an Pauline Lorenz geborene
Zincke aus Parchen - Schelten meiner heißgeliebten Mama geweiht sein, die am 18. September 1852 als Tochter der Maria Josepha Zincke geborene Kreibich als neuntes Kind das Licht der Welt erblickte. Ihren guten Vater
Sebastian Zincke habe ich nur aus Erzählungen meiner Eltern gekannt. Sein Bild hing in einem breiten Goldrahmen, solange ich mich als Kind erinnern konnte, über dem Piano auf der oberen Stube. Er war nach einem
arbeitsreichen Leben verschieden, als meine Mama erst 19 Jahre alt war. Als Lusterfabrikant hatte er es zu einem ansehnlichen Vermögen gebracht. Er besaß in Parchen drei Häuser, ein Bauerngut in Langenau und ein gut
gehendes Geschäft, welches seine drei Söhne Sebastian, Theodor und Emil übernahmen. Zu jener Zeit waren die Schwestern Maria, Antonia und Julia bereits verheiratet. Mama verlobte sich bald nachher mit meinem
unvergeßlichen Papa, Otto Sebastian Friedrich Lorenz, praktischer Arzt in Wolfersdorf. Es war eine große Liebe, welche die beiden zusammengeführt. Mama erst fünfzehnjährig, schenkte dem jungen Arzt ein goldenes Ringlein
mit rotem Stein in Herzform, welches er lebenslang wie einen Schatz aufbewahrte. Unsere Mama war wie Goethes Mutter eine Frohnatur. Unbeirrt schritt sie streng rechtlich auf dem Wege der Pflicht, bescheiden, durch und
durch edlen Sinns das wechselvolle Leben hinan. Aufgewachsen im Glauben an die Muttergottes, betete sie täglich zur heiligen Maria. Die kleine Pauli, wie unsere liebe Mama daheim von ihren Eltern und Geschwistern
benannt wurde, kam als Steißgeburt scheintot zur Welt. Ihr guter Vater soll sich immer gefreut haben, wenn ein Mädchen in der Wiege schrie. „Sie haben es besser als die Jungen“, pflegte er zu sagen. Es war ein gar
stattlicher Familienkreis in dem großen vornehmen Hause meines Großvaters. Mama erzählte von einem geräumigen Korbe mit Butterhörneln, der am Frühstückstische stand und mittags saßen so viele um den Tisch, wie bei einer
Hochzeit. Denn außer den Zincke-Kindern war da noch ein kleiner Italiener, der Sohn eines italienischen Geschäftsfreundes Namens Antonio und der Hoche Franz ein armer Junge von sieben Geschwistern, deren Häusel
abgebrannt war, von der Gemeinde zugeteilt. Die kleine Pauli wuchs als kerngesundes Schulmädchen, betreut von der 12 Jahre älteren Schwester Toni, in glücklichen Familienverhältnissen heran. In die Schule ging sie ein
Jahr später, nachdem sie während ihrer ersten Schultage einen Nervenschock erlitten hatte. Die Schwester Juli bekam eines Tages vier Schläge auf die Hände, wie die ganze Bank ihrer Mitschülerinnen. Darauf wollte Mama
von der Schule nichts mehr wissen und man mußte sie später zu Lehrer Ducke in das alte düstere Schulhaus tragen. Sieben Jahre blieb Antonio in Parchen, wo er die Glasschneiderei erlernte. Mich und meine Geschwister
interessierte es ungemein, wenn meine liebe Mama von dem Tage erzählte, an welchem ein geschliffener Dolch auf der Kellerstiege gefunden wurde. Dies war der Schlußpunkt für einen weiteren Aufenthalt von Antonio Perilli
in der Familie. Mein Großvater ersuchte dringend um seine Abreise bei seinem Geschäftsfreund. Es kam dann noch eine große Schachtel feinster Pralinen für meine Mama mit einem beiliegenden Brief folgenden Inhalts: „Ein
Druck an meine linke Seite, ich umarme und küsse Dich als meine Braut“. Die Pralinen sind aus Sorge, sie könnten vergiftet sein, vernichtet worden. Antonio wurde bald nachher im Duell erstochen. Am 23. Mai 1874
standen Pauline Zincke und Dr. Otto Lorenz Comunalarzt im Parchener Dorfkirchlein am Altar. Eine große Liebe hatte sie zusammengeführt, aller Kabale ungeachtet. Es muß ein schönes Brautpaar gewesen sein, so wurde mir
nach Jahren von Verwandten und Bekannten erzählt. Die liebe Mama trug ein taubenblaues Brautkleid aus bester Taftseide, ein grünes Kränzlein mit Myrte und Orangenblüten im Haar, genäht von Tante Resi, Vetter Heinrichs
Schwester. Kränzeljungfer war Papas Schwester Adele. Es muß eine große Hochzeitsgesellschaft gewesen sein. Während des Festessens spielte Mamas Lieblingsbruder Emil ein neues Klavierstück, die Mandolinata, und Papas
schöne Schwester Adele stand mit aufgelöstem langen Haar am Klavier und blätterte die Noten um. Mit dem Abendzuge traten die Neuvermählten die Hochzeitsreise nach Dresden an. Für die junge Frau war alles neu und
herrlich. Sie war nur einmal bis Königstein gekommen, um bei einem Luster lieren zu helfen. In Wolfersdorf bewohnten die Eltern zuerst unter der Kirche überm Bach das Gäsnerhaus. Zu dem kleinen Hausstand gehörten ein
Schimmel namens Hans, ein Doktorwagerl und die alte Magd Rese welche auch den Schimmel betreute. Frohen Herzens waltete die junge Frau Doktor in der bescheidenen Häuslichkeit und glücklich ging das junge Ehepaar gleich
am ersten Sonntag nach ihrer Heimkehr aus dem schönen Dresden über die Waldwiesen nach Parchen. Als sie am Waldrande einbogen, wo man zwischen Heidelbeerkraut und Himbeersträuchern hindurch in der Nähe schon die
Parchener Kirchturmspitze sieht, kam ihnen überraschend meines Papas Vater mit freundlichem Lächeln entgegen und machte gleich die ihn bewegende Mitteilung: „Adele und Emil sind heute mit dem Landauer nach Schwoika
gefahren.“ Das bedeutete die Verlobung der beiderseitigen Geschwister, die sich während des Musizierens an der Hochzeit gefunden hatten. Die Musik ist eine Kupplerin. Damit hatte sich ein neues Tor für zwei Liebende
aufgetan. Meine liebe Mama begleitete den Papa auf seinen Krankenbesuchen, im halb gedeckten Doktorwagerl, lernte derweil er bei den Patienten war englische Vokabeln und fand bald eine Freundin im
Wolfersdorfer Schlössel, im Dorfe als die Schlössel Berta bekannt. |
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2. Kapitel Otto Sebastian Lorenz
Mein Papa, es vergeht kein Tag, an welchem ich nicht in Liebe und großer Dankbarkeit an ihn zurückdenke.Otto Sebastian Lorenz wurde am 26. August (ein Kind der Liebe) als ehelicher Sohn, der erste von 12 Kindern, in
der Parchenschenke geboren. Die Parchenschenke, ein gar stattliches Gebäude, wo in alter Zeit Trauungen vorgenommen, und auch gerichtliche Streitigkeiten geschlichtet wurden, war Besitz der 19jährigen Elisabeth Palme,
deren Vater Sebastian Palme als vermögender Handelsmann nach langem Aufenthalt in Spanien und Italien nach Parchen zurückgekehrt, bereits verschieden war, als sie der junge Magister der Chirurgie Karl Lorenz aus
Steinschönau zum Altar führte. Unter den Augen einer überängstlichen Mutter wuchs der kleine Otto außerdem betreut von seiner guten Großmutter Franziska Palme, streng erzogen väterlicherseits, zu einem Knaben heran, der
bereits während seiner Kindheit großes Leid durch den Verlust seiner acht nach ihm geborenen Geschwister erfuhr. Die Trauer im Hause breitete daher auch melancholische Anwandlungen über seine Jünglingsjahre, welche die
Kameraden oft nicht zu zerstreuen vermochten. Immer mehr wandte er sich der Botanik und den edlen Geisteswissenschaften zu. Seine Gymnasialjahre verbrachte er im Leipaer Augustinerkloster, wo er mit Anton Ohorn, dem
späteren Dichter und Reimund Maras dem nachmaligen Oberlehrer in Schossendorf, studierte. Er erzählte uns Kindern, daß ihm während der ersten Jahre in Leipa einst eine mehrere Tage andauernde tiefe Traurigkeit
bedrückte, die er kaum ertragen konnte. Als nachher die Eltern ihn besuchten und er ihre ernsten Gesichter erblickte, rief er erschrocken aus: „Die Marie ist gestorben“. Das war seine fünfjährige Lieblingsschwester
gewesen, welche die Masern dahingerafft hatten. So kam ein für ihn erschütternder Weihnachtsabend heran, an welchem die sonstigen Vorbereitungen ausblieben. Kein Christbaum am Heiligen Abend, das wollte und konnte der
kleine Klosterschüler kaum glauben. Er konnte in der Nacht nur unruhig schlafen und als er nach Mitternacht erwachte, verließ er leise sein Bett und schlich sich barfüßig im Hemd in das anstoßende große Zimmer, um im
Dunkeln mit vorgehaltenen Händen nach Tannenzweigen zu tasten. In der Zimmerecke, wo sonst der Christbaum stand, gähnende Leere. Mit schwer enttäuschtem Kinderherzen suchte der arme Junge sein Bett wieder auf, kroch
unter die Zudecke und weinte bitterlich. Es muß den Eltern doch zu Ohren gekommen sein, denn nach zwei Tagen gab es eine Frühbescherung mit einem geschmückten Tannenbaum und auf dem Tische stand ein Porzellanschreibzeug
mit einem bunten Jagdhund verziert und daneben lag ein geschichtliches Buch. Eine andere Erinnerung aus jener Zeit erzählte mein Papa gern. In Parchen wurde der Karfreitag als größter Festtag des Jahres ganz besonders
streng gehalten. Zumeist wurden an jenem Tag auch drei heilige Gräber aufgesucht, welcher Sitte besonders sein Großvater aus Steinschönau gerne oblag. Die täglichen Mahlzeiten bestanden aus schwarzer Wassersuppe mittags
und abends wozu nur Wasser und Salz und geschnittenes Hausbrot verwendet wurde. Mein Großvater bezeichnete diese Enthaltsamkeit als einen Triumph des Willens, welchem er sich auch stets anschloß und weder Bier noch Wein
getrunken hat. Als er an einem Karfreitag einmal meinen Papa aufforderte, ihn auf einem Krankenbesuch nach Preschkau zu begleiten, steckte ihm seine gute Großmutter einen Pfefferkuchenreiter vom vorherigen
Gründonnerstag in die Manteltasche. Nach Parchen von Preschkau ist der Rückweg, der ständig bergauf führt, ein anstrengender. Der Vater dozierte wie gewöhnlich und bei einer eingeschlagenen Abkürzung durch eine junge
Fichtenpflanzung, als unseren Papa der Hunger gewaltig anfiel, dachte er an Großels Pfefferkuchenreiter in der Manteltasche und knabberte darauf los. Als Großvaters Begleiter schon gar lange ganz verstummt war, blieb
der Gestrenge stehen und fragte, weshalb er so ruhig wäre. „Was ißt du denn?“, donnerte er den hungrigen Jungen an. Als er von dessen Pfefferkuchenreiter hörte, tadelte er es als große Willensschwäche und sprach bis
Parchen kein einziges Wort mehr, während mein Papa wie ein armer Sünder ihm schweigend folgte. Noch drei Geschwister kamen zur Welt, aber nicht mehr in der alten ehrwürdigen Parchenschenke, sondern in dem
gegenüberliegenden, hübschen, hölzernen Landhause, dem sogenannten Jahnelhause, das mein Großvater für die Parchenschenke eingetauscht hatte und welches auf seinen Namen verbucht wurde. Angeblich wollte Papas Mutter
nicht mehr in der Schenke wohnen, wo einige ihrer lieben Kinder ins Schattenland gegangen waren. Mein Papa war sehr enttäuscht, als sein Vater ihn von dem Tausch in Kenntnis setzte. In Parchen benannte man ihn auch
ferner „Schenkenotto“. Zu seinen jüngeren Geschwistern Adele, Alfred und Otilie stand er stets in einem guten Verhältnis. Die Schwester Adele war sehr anhänglich an ihn und die kleine Tilli soll oft und oft gesagt
haben, „Otto ist mein liebstes Geschwister“. Mein Papa wurde ein treuer Reisebegleiter seines geistig hochstehenden Vaters, welcher dem wissensdurstigen Sohn, der mit offenen Augen alle neuen Eindrücke in sich aufnahm,
gern die Welt da draußen zeigte. Während die Mutter bei ihren Kindern daheim blieb und erst in späteren Jahren eine kleine Badereise mit ihrer Familie bis nach Bodenbach an der Elbe unternahm, fuhren Vater und Sohn mit
einem Mantelsack hinaus. Es ging nach Dresden, Berlin, rings um die Insel Rügen, nach Stralsund, an die Nordsee und zur Zeit der Weltausstellung nach Paris, wo sie im „Maison Blanche“ logierten. Wahrscheinlich fielen
die Reisen in die Jahre, wo der Papa an der medizinischen Fakultät in Olmütz Medizin studierte. Begeisterter Botaniker und Naturwissenschaftler, ausgerüstet mit einem gesunden Körperbau, studierte er mit großem Fleiß
Medizin. Es schien bei unserem Papa als wenn man sonst nichts anderes studieren könnte. Er beherrschte die Anatomie und alle Gebiete der Medizin von A bis Z. Er brachte nur Vorzugszeugnisse in allen Fächern heim. Seine
Professoren verehrte er insgesamt und trug uns Sätze in ihrer Sprechweise vor, wenn er abends bei guter Laune war. Sein Lieblingsprofessor war Arthur Willig, Professor der Anatomie, welcher ihn zu seinem Assistenten
ernannte und ihm in sein herausgegebenes Buch die Widmung schrieb: „Seinem fleißigen und begabten Schüler Otto Lorenz, gewidmet vom Verfasser“. Der Papa war mit einem Jahresgehalt von 600 Gulden angestellt. Eines
Tages erschien sein Vater im Auftrage der Mutter, welcher er das Versprechen gegeben hatte, ihren Ältesten nach Hause zu holen. Es sollen harte Kämpfe gewesen sein, bis der Papa unterlag und seinen Koffer packte. Die
Liebe zur Mutter hatte gesiegt. Nach einigen Wochen daheim fuhr die Familie nach Italien und der Papa mußte die Praxis seines Vaters führen. Später hat ihm das abhängige Verhältnis nicht gefallen. In
Wolfersdorf war der alte Arzt Dr. Settmacher gestorben und mein Papa übernahm von dessen Witwe das Instrumentarium, die Hausapotheke mit dem Mobiliar, mietete in der Niederen Schenke, wo auch die Post war, zwei Zimmer
und wurde von der Gemeinde Wolfersdorf und der Bezirkshauptmannschaft in Böhmisch-Leipa zum Kommunalarzt eingesetzt. Als junger Arzt in Wolfersdorf mit einer gewesenen älteren Pfarrersköchin als Wirtschafterin führte
der Papa ein recht beschauliches Leben. Abends saß er zwischen den Honoratioren des Dorfes am Stammtisch und mußte sich auch eine Prise nehmen, wenn die Schnupftabakdose die Runde machte. Die Herrschaft in Wolfersdorf
war die Familie Helmich, wo der Papa als Hausarzt wöchentlich eingeladen wurde. Helmichs hatten die Schmelzindustrie von Venedig nach Wolfersdorf gebracht, und so lebten viele arme Leute von den geringen Einkünften, die
dieses eigenartige Geschäft abwarf. Der alte Herr hatte unserem Papa seine Tochter Anna zugedacht und machte stets aufmerksam, wenn das junge Mädchen errötete. Unseres Papas Herz jedoch war nicht mehr frei. Ab und zu an
Sonntagen kam von Parchen ein Schlitten angeklingelt und brachte seine Braut mit seiner Schwester Adele zu Besuch. Da wurde ein Kaffee getrunken. Meine liebe Mama soll immer verschüchtert gewesen sein und am Abend
klingelten sie wieder durchs Oberdorf hinaus über den Weigelberg und Steinschönau nach Parchen. Oft erzählte mein Papa, welch große Freude es für ihn war, als er die ersten 100 Gulden verdient hatte. Das war zu jener
Zeit viel Geld. Noch vor seiner Verheiratung kaufte er sich um 75 Gulden einen Diamantring, welchen er bei feierlichen Anlässen und auf Reisen stets trug und an welchem er durch sein ganzes Leben große Freude hatte.
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3. KapitelDas Elternhaus In bescheidenem Rahmen zufrieden, strahlte mein Papa eine gewisse Wohlhabenheit aus. Sparsam in alltäglichen Dingen war für ihn Geld stets Mittel zum Zweck. Er trug stets
dunkle, zumeist graue Anzüge, und wenn er in seinem Pastorenhute durch das Dorf fuhr oder ging, grüßten ihn ehrfürchtig alle Leute. Bald nach seiner Verheiratung hatte er sich eine Baustelle im Mitteldorfe erworben und
bereits einen Bauplan von einem Baumeister anfertigen lassen, als ihm ein Patient, Herr Emanuel Schröter sein Haus zu kaufen anbot. Nachdem er durch diesen Kauf in den Besitz eines großen Gartens gelangte, kam der Kauf
zustande und noch vor der Geburt des ersten Kindes übersiedelten unsere Eltern in das hölzerne Landhaus mit dem Doppeldach hinter der großen Linde am Ufer des Baches. Vormals hatte es einem Kaufmann namens Schicketanz
gehört. Daher war ebenerdig ein großes Gewölbe, der ehemalige Laden mit einer schweren Eichentür und 2 vergitterten Fenstern. Bis in spätere Zeiten wurde daheim das große Gewölbe immer noch als „der Laden“ bezeichnet.
Das gehört zur Chronik des Wolfersdorfer Doktorhauses, das die Nummer 177 trug und wo wir durch lange Jahre unendlich viel Freude und unendlich viel Leid erlebten. Derzeit hausen Tschechen darin und wir werden es
niemals wiedersehen. Nur der Traum trägt uns noch ab und zu nach Haus.Unser Elternhaus hatte unten eine große Stube mit vier einfachen Fenstern, daneben das Stübel, wie es allgemein genannt wurde. Es diente als
Schlafzimmer, hatte drei Fenster, von welchen man den Blick hinaus in den Garten hatte bis hinauf zur höher gelegenen Wünschens Wiese. Das Vorhaus, wo früher ein Backofen gestanden, wurde geteilt und der hintere Teil
als Küche eingebaut. Von da gelangte man durch einen Gang in das Obstgewölbe und den Pferdestall. Ein zweiter kleiner Gang führte zum Clo und links, durch zwei Stufen verbunden, in den Schuppen, wo durch lange Jahre
hindurch das Doktorkutscherl und der Schlitten standen. Eine weitere Stiege führte in das Bienenhaus und daran anschließend zu den zwei Treibhäusern. Außerdem gelangte man vom Schuppen durch einen schmalen Gang, wo die
Ofentüreln für die Treibhäuser angebracht waren, in den Kohlenschuppen. Eine hölzerne Stiege führte zum oberen Vorhaus mit einem Fenster, welches den Blick hinaus auf die Straße und die hohe Linde mit dem
Starenhäuschen hatte. (Papa vermerkte die Ankunft der Stare, wenn sie eines Morgens aus dem Süden zurückgekehrt, im Kalender.) Links führte eine zweiflügelige Tür in die sogenannte obere Stube, wo das Piano, die
Kommode, die rot gepolsterte Garnitur um den ovalen Tisch und in der Ecke der Glasschrank mit der silbernen Vase stand, die Mamas Brautkranz trug. mitten unter dem blauen, handgemalten, vergoldeten Kaffeeservice. Über
der Kommode und dem Sofa hingen große geschliffene Spiegel mit breiten goldenen Rahmen. Das Stübel war mit einem großen Kleiderschrank, einem Waschtisch und zwei Gastbetten möbliert. Das ganze Jahr genoß man einen
herrlichen Ausblick in den Garten, wo unten die Wasserpumpe stand, darunter der Sandplatz mit dem Sommerhäusel, durch dessen bunte Scheiben das Licht hereinfiel. Obstbäume ringsum und als besonderes Juwel die beiden
Bienenhäuser, wo der liebe Papa imkerte. – Rechts von der Stiege kam man in das Wartezimmer mit 14 bequemen hölzernen Stühlen und zwei mächtigen Bücherschränken. Geradeaus war das Ordinationszimmer, gleichzeitig
Hausapotheke mit dem Laborationsschrank, dem Kräuterkasten, dem großen Schreibtisch, dem Pulverschrank und Tischl, dem kleinen Kachelofen, der gleichzeitig das Wartezimmer heizte und nicht zu vergessen das
Zahnstühlchen, welches sich Papa nach eigenen Angaben hatte anfertigen lassen. Von der Apotheke führte eine schöne weiße Tür in das sogenannte lange Zimmer, das später angebaut worden war. Es war sozusagen Papas
Tuskulum, möbliert mit einem Untersuchungsdivan, einem gynäkologischen Untersuchungsstuhl, einem Schreibtisch, auf welchem die beiden Mikroskope standen, die Steinsammlung und Bücherkästen. An den Wänden hingen die
Ahnenbilder, wo im Frühjahr Eichenzweige darüber gesteckt wurden. Das lange Zimmer hatte 7 große Fenster nach Westen zu und war an Nachmittagen von Sonne durchflutet. Über eine schmalere Holzstiege gelangte man durch
eine eisenbeschlagene Falltür auf den großen Boden, das Eldorado aller Kinder. Der Boden war geteilt in einen zweifenstrigen Boden und einen dreifenstrigen Wäscheboden. In ersterem stand die große Haferkiste für das
Pferdefutter, in der Ecke hing der Schellenkranz für das Pferd, wenn es im Winter vor den Schlitten gespannt wurde. Bei Entdeckungsreisen auf dem Boden, wo viele alte Spielsachen neben den beiden Wiegepferden aufbewahrt
waren, schüttelten wir Kinder oft an den roten Wollquasten des Schellenkranzes. Das Läuten der Schellen tönte dann durchs ganze Haus. In einer Ecke waren die Medizinflaschen in verschiedenen Größen auf einem hölzernen
Podest gelagert, auch Salbentiegel und Körbe mit gebrauchten Medizinflaschen. Der Wäscheboden, wo die Leinen zum Trocknen der Wäsche das ganze Jahr angebracht waren, hatte neue Dielen und war sehr geräumig. Vorne hingen
alle möglichen alten Kleider, die von uns Kindern oft zu Maskeraden herunter geholt wurden, an einem Balken der Decke der köstlich mundende schwarz geräucherte Speck. Alle Fenster waren mit Eisengittern versehen. Unter
dem Doppeldach war mit einer schmalen Stiege verbunden der Heuboden und der Taubenschlag. Wir hatten alle möglichen Tauben verschiedener Rassen darunter, deren lautes „Kukru“ das Dach belebte. Während meiner Kinderzeit
fütterte der Papa anschließend an das Mittagessen eigenhändig die Tauben. Wir Kinder durften ihn auf diesem Gange begleiten, nachdem wir während des Winters zuvor mit warmen Kleidern ausgerüstet wurden. Oben vor dem
Taubenschlag angekommen, lockte Papa die gefiederten Bewohner mit dem Rufe „Hulei, hulei“. Wir durften den in einem Maße abgemessenen Kukuruz streuen und vom Fenster außen hinein schauen, wie sich die Tauben auf ihr
Futter stürzten, während der Papa uns Kinder eines nach dem anderen auf seinen Arm nahm, da die Beobachtungsfenster zu beiden Seiten der Tür in Mannshöhe waren. Später wurden die Niststrohschüsseln numeriert und ich
führte Buch darüber. Ich möchte noch erzählen, daß mein Papa den vom Nachbar Ferdinand um 800 Fl. erworbenen Bauplatz, nach dem er das Haus gekauft hatte, in einen Wildgarten verwandelte, wohl nach dem Vorbild seines
väterlichen in Parchen. Alle Bäume und Sträucher holte er, wie er oft erzählte, selbst aus dem Wald. Es waren Fichten, Tannen Weimutskiefern, Eichen, Ulmen, Birken, Eschen, Linden, Akazien und andere mehr. Auf der
rechten Seite war eine Grotte mit Basaltsteinen vom Herrnhaus angelegt worden und links im Gesträuch eine geräumige Laube mit offenen Fenstern von wildem Wein bewachsen. Der Wildgarten war das Paradiesgärtlein
unserer Kinderzeit, mit seinen vier Grasflächen, der Rundung in der Mitte und zwei bequemen weißen Gartenbänken. Auf der oberen Bank saß an Nachmittagen zumeist unsere liebe, gute Mama zur Beaufsichtigung ihrer vier
Kinder, die mit Kameraden und Kameradinnen nach Herzenslust spielten und auf Wegen und freien Plätzen herumtollten, bis die Sonne im Westen unterging. Der liebe Papa kam nur selten auf einen kurzen Besuch in den
Wildgarten und warnte vor Erhitzen seiner Sprößlinge. Zumeist schnitt oder sägte er über den Weg gewachsene Zweige ab und beschäftigte uns mit dem Abtransport der grünen Äste. Gewöhnlich verschwanden alsbald die anderen
Kinder respektvoll. Unser Papa beschäftigte sich außer mit der Imkerei vornehmlich mit der Pomologie. Je nach der Bodenbeschaffenheit pflanzte er die besten Obstsorten, Äpfel, Birnen, Pflaumen, Kirschen, außerdem
alle Sorten Beerenobst. Daneben blühten im vorderen Blumengarten die Rosen, alle denkbaren remontierenden Blumen, im Frühling Schneeglöckchen, Himmelschlüssel, gelber und lila Krokus, Narzissen, Märzenbecher,
Kaiserkronen, Pumpelrosen (Pfingstrosen), Rittersporn, Eisenhut. An der Ostseite des Hauses die weißen Jakobslilien, der Türkenbund, die Schwertlilien, dazwischen allenthalben der Flox, nicht zu vergessen der
Herzelstock vor den Küchenfenstern, wo sich die Gemüsebeete mit den Artischocken, Mangold usw. befanden. Über den ganzen Garten verstreut blühten während des Sommers verschiedene Giftpflanzen, als Heilkräuter
geschätzt, vor denen wir Kinder gewarnt waren. Fingerhut, Bilsenkraut, Stechapfel, Tollkirsche, Seidelbast, Einbeere, neben bewährten Hustentees so Eibisch und Pfefferminze. Das sind nicht alle Pflanzen, welche unsere
Gärten zierten. Ich möchte nur noch die große Sammlung der Farnkräuter, das Alpinum und die Christrosen erwähnen, die blühten, bis der Schnee ihre Blätter und Blüten bedeckte. Im Idyll des Landlebens oblag unser Papa
neben seiner Praxis, welche sich nicht nur auf die umliegenden Ortschaften beschränkte, (Patienten kamen von weit und breit) fortgesetzt dem medizinischen Studium. Er erwarb sich auf Anregung von Professor Nothnagel den
Doktorhut an der Universität Jena am Fürstengraben. Er besuchte mit regem Interesse die Ärztekurse in Jena und Wien, war daher stets am Laufenden auf allen Gebieten. Sein besonderes Fach war außerdem die Geburtshilfe.
Daneben betrieb er die alten und neuen Fremdsprachen, lernte eifrig Italienisch, um einmal das Land wo die Zitronen blühen zu besuchen. Viermal bereiste er die schöne Schweiz, wo es ihn immer wieder hinzog. Uns Kindern
erschloß er die Freude an der Natur, zeigte uns vornehmlich Dresden mit seinen Kunstschätzen, Berlin zur Zeit des österreichischen Kaiserbesuchs, außerdem unsere vormalige Kaiserstadt Wien, Prag, die böhmischen Bäder
und meinen Brüdern das Riesengebirge mit der Schneekoppe. Beinahe hätte ich seine Musenstadt Jena und den geheiligten Boden von Weimar vergessen. Während der Winterabende spielten unsere Eltern oft Schach oder der Papa
las uns aus den Klassikern vor, deren Dramen er zum großen Teil auswendig deklamieren konnte. Das Klavierspiel hatte er erst später auf Anregung in Mamas Elternhaus gelernt. Wenn er auf der oberen Stube den Zirkus Renz
spielte, rannten wir Kinder als Ponypferdln im Zimmer bis hinein ins Stübel auf und ab vor Jugendlust. Außer der Botanik beschäftigte sich unser Papa mit Astronomie, hatte auch ein Fernrohr, durch welches man die Ringe
des Saturn erblicken konnte. Seine schönen Gedichte gingen leider bei der Aussiedlung verloren. Sein teures Andenken will ich beschließen mit dem Zitat: Er war ein Mann, nehmt alles nur in allem,ich werde nimmer seinesgleichen sehn. |
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4. Kapitel
Das KalenderjahrUnser Kalenderjahr daheim in meinen jungen Tagen Es war stets ein eigenes Gefühl, wenn ich am Neujahrsmorgen erwachte, irgendwie beschlich mich etwas Feierliches. Papa lag wie sonst in seinem Bett im Stübel. Die Lider waren
schon aufgeschoben, wenn wir zögernd, noch im Hemd vor der Stübeltür standen und noch einmal leise die Neujahrswünsche vor uns hersagten. Die liebe Mama winkte uns ermunternd zu, sodann wurde den Eltern ein glückseliges
neues Jahr gewünscht. In der Zimmerecke zwischen den Fenstern stand noch der Christbaum und auf dem Tische stand aufgeschnittenes Christbrotl. Am Neujahrstage, der zu den hehren Tagen zählte, wurde nicht ordiniert.
Gewöhnlich waren Eisblumen an den Stubenfenstern, die von der Ofenwärme allmählich auftauten, so daß man die spät aufgehende Wintersonne hinter Wünschens Scheune aufgehen sah, umgeben von einem leuchtend goldenen
Strahlenkranze. Nach dem Kaffeetrinken wurde im Laufe des Vormittags der Befehl zum Anschirren des Schimmels gegeben. Es scheint mir, als wären die Eltern immer im Schlitten nach Parchen gefahren, um dem Großvater und
dem Großel ein gesundes neues Jahr zu wünschen. Wir Kinder wurden der Obhut der Soben Anna und dem Dienstmädchen übergeben, drückten unsere Nasen an die kalten Fensterscheiben, um den vermummten, in Pelze gehüllten
Eltern nachzusehen, die unter dem munteren Läuten des Schellenkranzes das Dorf hinauf sausten. Wenn um ½5 dann der Nachmittagsschlitten von Kamnitz nach Leipa bimmelte, sagte die Sobennanne: „Der Tag hat schon um ein
paar Hahnschreie zugenommen“. Es war nicht mehr ganz finster. Wir konnten deutlich im Dämmerschein den Plachenschlitten erkennen. Nach Neujahr beschäftigte sich unser Papa vornehmlich mit Pomologie. Auf seinem Tische
lagen die Bücher von Oberdik und anderen Pomologen. Da waren Äpfel, Birnen und Pflaumen abgebildet, in der Mitte durchschnitten. Kernhaus, Stiel und Schale genau beschrieben, darunter mit Stern oder Rufzeichen versehen,
was Tafel- oder Wirtschaftsobst bedeutete. Daneben wurden Bienenbücher vom alten Dzirson, Berlepsch usw. eifrig durchgenommen, nebenbei mit der lieben Mama Schach gespielt, oder Eröffnungspartien der großen Meister,
besonders Partien von Paul Morphy nachgezogen.Wenn die Tage langen, kommt die Kälte gegangen! Es war die Zeit, wo die Gewölbefenster dick wie ein Brett gefroren waren. In jenen Tagen wurde vis-á-vis von
uns beim Müller Hentschel das Schwein geschlachtet. Da rauchte die Feueresse den ganzen Vormittag besonders stark und der Fleischer mit Stahl und weißer Schürze ging aus und ein. Mittags kam dann die Müller Emmi mit
einem verdeckten Topfe und extra auf einem Teller geriebenen Kren. Sie hatte das Wellfleisch gebracht. Für uns Kinder gab es nur eine kleine Kostprobe und die liebe Mama wollte nichts davon, während Papa sich ein Stück
von Ohr und Rüssel gut schmecken ließ. Abends wenn es schon dunkelte, brachte dann der Müller Karl auf seinem Rücken ein halbes Schwein und später auf einem langen Brette die Leber- und Blutwürste. Das Fleisch wurde im
Gewölbe an den eisernen Haken aufgehängt, und das Brett mit den guten Hauswürsten kam auf die obere Stube. Ich habe im ganzen Leben nie mehr so delikate Leber- und Blutwürste gegessen. Der alte Müller war ein
Feinschmecker. Als Kinder bekamen wir am Abend jedes ein halbes Leberwürstel, worauf wir uns immer den ganzen Tag freuten. Zu unseren großen Winterfreuden gehörte das Rodeln, damals Schlittenfahren benannt. Als ich
meinen ersten Schlitten vom Wagner Terme gebaut bekam, ging mein Papa mit mir und fuhr zuerst selbst den kleinen Berg hinter dem Treibhause herunter. Der Schlitten war aus Buchenholz und war nicht mit Eisen beschlagen.
Ich ging noch nicht in die Schule und war sehr stolz, als ich allein fahren und lenken konnte. Später kamen die Brüder, welche gleich eisenbeschlagene bekommen hatten. Wir durften nur Schlitten fahren, wenn das
Thermometer nicht unter 5 Grad Reaumur (6,25 oC) stand, was der liebe Papa stets selbst kontrollierte. In den höheren Volksschulklassen rodelten wir den Kirchberg herunter bis auf die Straße, was zu unseren schönsten
Winterfreuden gehörte. Vor der Pumpe im Garten wurde bisweilen ein Sieb über ausgestreutem Kukuruz und anderen Körnern schief von einem Holzpflock gehalten, aufgestellt, an welchem eine Schnur befestigt
war, die durch ein kleines Loch im Fensterrahmen bis in unser Stübel herein reichte. Eines von uns Kindern stand dann auf der Lauer, um im richtigen Augenblick an der Schnur zu ziehen, hoffend Spatzen zu fangen, welches
Unternehmen niemals gelungen ist. Zu den Ereignissen des Vormittags gehörte in Wolfersdorf die Ordination. Patienten kamen und gingen, ohne daß wir besondere Notiz davon nahmen. Die Kranken mit und ohne
Maulkorb schüttelten im Vorhaus den Schnee von den Kleidern. Gar oft hörten wir laute Schmerzensschreie beim Zahnziehen, was uns auch weiter nicht störte. Es gehörte alles, so lange wir denken konnten, zum Doktorhause.
Außergewöhnliche Patienten aus Papas Verwandtschaft wurden von unserer lieben Mama mit Kaffee und Bähsemmeln bewirtet. Zwischen zehn und elf kam der Briefträger mit seiner großen Ledertasche das Gassel heraufgestapft.
Er brachte täglich das Prager Abendblatt, wofür ein Kreuzer kassiert wurde und nach dem Jänner aus Erfurt die Samenkataloge von Haag & Schmidt und anderen Firmen. Für den lieben Papa begann daher bald die
Vorfrühlingsstimmung, welche er besonders schätzte. Er schrieb sich Samen von Blumen und Gemüsen aus den Verzeichnissen heraus und erfreute sich an den herrlichen Abbildungen, die wir Kinder in älteren Katalogen bemalen
durften. So kam die Faschingszeit heran. Gewöhnlich war da auch eine Theatergesellschaft in einem Saale eingetroffen, und es gehörte für uns Kinder zu einem großen Vergnügen, wenn Papa die Erlaubnis zu
einem Theaterbesuch erteilte. Die kleine Rieche wurde huckepack von meiner Freundin Tschiltschken Toni getragen. Sechs Musikanten spielten vor Beginn der Aufführung und zwischen den einzelnen Akten. Noch heute muß ich,
wenn ich das Stimmen einer Geige höre, an jene Theaterabende zurück denken, welche einen großen Eindruck auf mich machten. Die liebe Mama war eine eifrige Theaterbesucherin. Ein besonderer Tag im Winter war im
Doktorhause das Krapfenbac ken, welches einmal im Jahre geschah. Ich brauchte an jenem Tage nicht in die Schule zu gehen und war so recht in meinem Elemente. Zuerst wurde ein Kilo türkischer Pflaumen weichgekocht, die
ich nachher mit dem Wiegemesser ganz fein walzen mußte, während die liebe Mama in einer großen Schüssel den Teig rührte. Nachher durfte ich beim Ausstechen helfen und mußte die geformten rohen Teigkrapfen immer ins
Gewölbe tragen, auf daß sie nicht zu schnell gehen sollten. Als dann die lange Tonpfanne auf den Herd gestellt wurde, kam der große Augenblick, wo rings herum ganz dick Asche gestreut wurde. Jedes Jahr erzählte die
liebe Mama, daß irgendwo während des Krapfenbackens, wo sich das kochende Butterschmalz durch die glühende Ofenplatte entzündet hatte, ein ganzes Haus abgebrannt war. Ich erinnere mich, wie ernst die gute Mama an jenem
Tage gewesen ist. Kaum zum Essen nahm sie sich Zeit und mit hochrotem Gesicht stand sie bis in die Nacht hinein in der Küche. Sobald die Faschingskrapfen braun und knusprig gebacken waren, wurden sie in Punsch umgedreht
und zuletzt noch ringsum in klarem Zucker eingehüllt, wobei ich mich beteiligte und mir sehr wichtig erschien. Der Schmalzgeruch erfüllte das ganze Haus. Meine Geschwister in Vorahnung der Faschingsfreuden waren
besonders lustig. Unaufhörlich war im Stübel der Schabernack in Betrieb und ich lief schnell einmal durch, wenn ich ins Zimmer kam. Abends wurden die Krapfen, wenn alle fertig waren, in den großen Reisekorb geschichtet,
der bis oben hinauf voll war. Sodann wurde er am Boden wegen Mäusen mit Stricken aufgehängt. Am darauffolgenden Samstag großes Reinemachen, alle Betten frisch bezogen und wir in der Vorfreude auf die Maskeraden, welche
zumeist am Sonntagmorgen bereits vor dem Hause standen, wenn wir noch in den Betten lagen. Zumeist waren es Schuljungen aller Altersklassen, welche ihre Röcke umgedreht, mit in Streifen geschnittenen, ausgeschriebenen
Schreibheften benäht, am Kopfe die schwarze Tüte eines Zuckerhutes, eine Larve vor dem Gesicht und in den Händen Stöcke und Sparbüchsen trugen. Das ging durch zwei Tage hindurch so fort. Alle vier Geschwister blieben
wir unentwegt am Fenster und die Freude war groß, wenn wieder ein neuer Trupp die Straße herunter kam. So war es noch zu der Zeit, als meine Kinder einmal den Fasching in Wolfersdorf kennen lernten. Adelchen oblag es,
das Geld in die bereitgehaltenen Büchsen zu werfen, was ihr großen Spaß machte. Es war zu lustig und soll der Vergessenheit nicht anheimfallen, wie eine kleine Larve die Persönlichkeit verändert. Ein winziger
dreijähriger Bub mit Larve klapperte mit seinem Münzenkästchen. Adelchen fünfjährig war in Verlegenheit, nachdem ihr Kleingeld ausgegangen war, also fragte sie zögernd den viel kleineren Maskierten, „Können Sie
wechseln!“. Dabei war sie dunkelrot im Gesicht geworden. Faschingsdienstag beschloß in Wolfersdorf gewöhnlich ein Maskenzug Erwachsener die tolle Zeit. Aschermittwoch wurde als Fasttag gehalten. Unsere
Krapfen dauerten lange. Die nachfolgende Fastenzeit, wo die marinierten Heringe ein beliebtes Abendessen bildeten, war die Zeit der Rockengänge und Federschleiße. Wir durften mit der lieben Mama aufs Schlössel zum
Kaffee gehen, was ein großes Ereignis für uns Kinder bedeutete. Papa warnte vorher eindringlich Rosenlikör zu trinken, der vor dem Kaffee in kleinen, spitzigen Schnapsgläsern kredenzt wurde. Auf vieles Bitten und
Zureden der alten dicken Schlösselfrau, durften wir ein bis zweimal nippen, was für uns die Höhe eines Genusses bedeutete. Das Schlössel, das erste Haus in Wolfersdorf, mit seinen meterbreiten Mauern und Nischen, machte
auf uns Kinder einen gewaltigen Eindruck. Außerdem stand ein merkwürdiges, uraltes Wiegepferd für uns bereit, das aus Brettern bestand, dessen Unterteil in Form einer Wiege gebaut war. Zur Frau Oberlehrer Kunert wurden
wir auch mitgenommen, d.h. vollzählig. Meine Mama ging mit vier Kindern hinunter, als die Familie des Ortsorganisten noch in der niederen Schenke wohnte und die Frau Kunert brachte fünf Sprößlinge zu uns herauf. Um
halbzwei Uhr kamen als Vorreiter schon ihre beiden Töchter mit weißen, gebügelten Schürzen und langen Zöpfen. Es wurde Süßwein mit Zwieback und nachher Kaffee mit großen Kuchenbergen aufgetragen. Andere Rockengänge
waren bei Frau Rämisch, Frau Ferdinand Gürtler, bei der Frau des Gendarmen Kerschbaum, Frau Günter Bäuerin und anderen. Nach der Fastenzeit, wo mittlerweile die ersten Stare auf der Linde eingetroffen waren und die
Bienen zuweilen ihren ersten Reinigungsausflug unternommen hatten, nahte die heiß ersehnte Osterwoche mit dem Gründonnerstage. Die ersten Boten mit ihren Tragkörben kamen oft schon am Quargel-Dienstag oder am krummen
Mittwoch. Halbe Stunden lang standen wir an jenen Tagen hinter Wünschens Wiese am Ausguck ob sich vis-à-vis oben am Waldrand vielleicht ein Männlein oder Weiblein mit einem mit weißem Drahttuch verbundenen Korb erspähen
ließ. War das der Fall, tobten wir voll Freude die Wiese hinunter, und dann erschien es uns wie eine Ewigkeit bevor der Gründonnerstag aus Parchen ankam. Die Boten wurden in der Küche bewirtet. Die Torten und Goltsche
(kleine, gefüllte Hefekuchen) kamen hinauf auf die Oberstube, wo die Torten auf dem Piano ihren Platz fanden, die Goltsche am ovalen Tisch. Das Großel schickte immer einen Spreukorb, vier Torten, vier Goltsche, sehr
viel Zuckerzeug und für mich einen Kleiderstoff. Es wurde daher nichts im Hause gebacken, da alles im Überfluß hier war und ein Teil davon an Mamas Paten im Dorfe weitergeschenkt wurde. Gründonnerstag:
Frühmorgens brachte der liebe Papa Honig zum Frühstück, wovon die Dienstboten, der Hund und das Pferd eine Honigschnitte bekamen. Vetter Fritz Uhle schickte an diesem Tage stets als Letzter einen Lehrjungen mit einer
Torte für Arnold. Mama gab Trinkgeld. Der Karfreitag wurde von der lieben Mama als strenger Fasttag gehalten. Dreimal schwarze Wassersuppe. Nachmittags ging sie wie die anderen Frauen im Dorfe mit einem schwarzseidenen
Kopftüchel in die Kirche und früher als sonst mit großen Kopfschmerzen zu Bett. Wir hatten stets Linsen mit Spiegeleiern und den ersten Maisalat oder Rapunzel. Das heilige Grab in Wolfersdorf erschien mir sehr schön. Es
trug die Aufschrift: „Sein Grab wird herrlich sein“. Zwei Ministranten in weißen und roten Gewändern, betende Engel darstellend, zu beiden Seiten des heiligen Grabes, welches mit blühenden Naturblumenstöcken geziert
war. Während wir mit der lieben Mama in die Kirche gingen, besuchte Papa das heilige Grab stets allein, wenn er Visiten machend über den Kirchberg ging. Der Höhepunkt der Fastenzeit war dann Ostersamstag
die Auferstehung, wo bereits am Spätnachmittag Feuermörser auf dem Hügel hinter dem Kirchberge abgefeuert wurden. Gegen 5 Uhr nachmittags gingen die ersten Leute mit ihren aufgeputzten Kindern an unserem Hause vorüber
in die Kirche zur Auferstehung. Die kleinsten wurden auf den Armen getragen. Am großartigsten gestaltete Herr Pfarrer Finke den Auferstehungsabend, wo zahlreiche Raketen zum Nachthimmel aufstiegen, bengalische Lichter
und Sonnen, die sich im Kreise drehten, abgebrannt wurden. Wir Kinder sahen alles vom Fenster aus, denn die Frühlingsnächte waren noch kalt. Nach heimatlicher Tradition brannte der Küchenofen und die liebe Mama
bereitete ein Festmahl aus Kalbsschnitzeln. Die Dienstboten waren in der Auferstehung und die Sobennanne rumorte auch in der Küche. Uns war allen sehr feierlich zu Mute, das seltene Mahl, das Läuten aller Glocken, das
Böllerschießen die ganze Nacht hindurch und um fünf Uhr früh Tagrebell der Wolfersdorfer Musikkapelle. Anschließend an die Osterstimmung des Hauses möchte ich eines eigenartigen Bildes Erwähnung tun. In späterer Zeit
fand ich einmal den lieben Papa und Arnold mit großen Ohrpfropfen aus Watte in den Ohren zum Schutze des Sandmannes, den die Feuermärser der Nacht nicht ins Stübel herein gelassen hatten. Es gab dann ein herrliches
Lever am Ostermorgen. Lang, lang ist’s her. Der liebe Papa las den Osterspaziergang und wohl auch anschließend den Monolog aus dem Faust vor. Ich bin der festen Überzeugung, daß keiner je mehr so schön vorgelesen hat
wie unser Papa. Wunderbar schön war zu Ostern der Gesang der neu angekommenen Vögel im Garten, wo der gelbe Krokus in einem Kranze um die Rundung blühte und der Seidelbast neben dem Sommerhäusl. Wo vereinzelt noch
Schnee auf den Gemüsebeeten lag, war Stroh ausgebreitet für die aus ihrem Winterschlaf erwachten Bienen, auf daß sie nicht erstarren sollten. Das Summen der Bienen gehörte vor allem im Garten vor der Hintertür zum
Frühling, wie die Schneeglöckchen und Himmelschlüssel. Es gab auch weiße Ostern in Wolfersdorf, wo ein lustiges Feuer im Ofen brannte, wo wir gerne vor dem durchbrochenen gußeisernen Ofentürl saßen und in
die brennenden Holzscheite blickten. Sodann erzählte die liebe Mama, daß ihr Großel einmal sogar noch zu Pfingsten von Parchen zum Kreuzbergel gefahren wäre. Wir saßen dann getröstet an den Fenstern und schrieben die
vorübergehenden Leute und Pferde auf oder hörten auf eine Lügengeschichte. Anders war es, wenn Pfingsten vor der Tür stand und der liebe Papa mit geheimnisvollem Gesicht fragte, ob wir eine Fahrt nach
Dresden mitmachen wollten. Der Jubel über eine solche Aussicht war ohrenbetäubend. Es war für unsere gute Mama keine Kleinigkeit, wenn sie oft in letzter Stunde Strümpfe, Schuhe, Wäsche und Sonntagskleidung
herbeischaffen sollte. Dabei sollte es ohne Aufhebens geschehen. Die dienstbaren Geister wurden eiligst mobilisiert und die kleine Sobennanne mußte als Maulesel antreten. Unser Mariechel wurde aufgehockt, damit die Tour
zum Straußnitzer Bahnhof vorwärts ging. Es war eine riesengroße Vorfreude, schon wenn wir mit der lieben Mama durch die grünen Wiesen gegen die Windmühle hinauf zum Walde schritten. Daheim wurde mit Rezepten ordiniert,
die Patienten flogen nur so. Trotzdem erschien es der lieben Mama immer zweifelhaft, ob Papa rechtzeitig würde parat zum Abmarsch sein. So saßen wir oben am Waldrande mit ängstlichen Blicken auf den Wiesenweg
hinunter spähend, ob unser Reisemarschall käme. Ein Freudenschrei, wenn unsere Hoffnung schon auf dem Nullpunkt angelangt war (Mama hatte eine Uhr) und wir dann doch noch den lieben Papa im dunkeln Anzug, den Überzieher
am Arm eilig von weitem erblickten. Das war für uns der Auftakt zum Weitergehen. Die kleine Riche wurde wieder aufgehockt und in frohem Tempo ging es den bekannten Rebhühnerweg über Stock und Stein vorwärts durch einen
Fichtenhain über eine kleine Waldwiese, auf welcher Papa uns gewöhnlich einholte, ein grünes Zweiglein in der rechten Hand. Endlich ging es bergunter und man sah im Tale die Dächer von Straußnitz und
Neustadtl liegen. Wie mit Meilenstiefeln waren wir jetzt mit Papa voraus. Arthur, Arnold und ich die Tollste, Mama mit der Sobennanne ein Stück hinter uns. Herrlich das Gefühl, wenn das einstöckige, nüchterne
Bahnhofsgebäude auftauchte. Papa löste zumeist Karten zweiter Klasse. Gott sei Dank war dann gewöhnlich noch rechtzeitig unsere Nachhut eingetroffen, oft zugleich mit dem glattrasierten, älteren Briefträger des
Städtchens, der noch den Bahnhofsbriefkasten ausleerte und in seinen Beutel zwei bis drei Briefe steckte. Nun mußte ja das heißersehnte Wunder die schwarze Lokomotive mit dem Lokomotivführer und dem rußigen Heizer bald
kommen. Ein weißes Dampfwölkchen hinter dem Einschnitt der Krümmung, ein wohlbekannter Pfiff und unsere Eisenbahn war da. Wir konnten einsteigen und freuten uns ein Coupé mit Polstersitzen für uns zu haben. Papa hatte
gebeten, wenn möglich sollte der Kondukteur uns allein lassen. Es war halsbrecherisch wie sich in damaliger Zeit die Schaffner während der Fahrt außen an Griffen weiterbewegten, um dann nach Öffnen der Tür die
Fahrkarten zu zwicken. Nachdem vereinbart war, die Fensterplätze zu wechseln, blickten wir hinaus in die vorbeifliegenden Dörfer und Wälder am Polzenflusse und der Politzer Walfahrtskirche vorüber. Als dann bei
Franzenstal das Tunnel kam, zündete Papa ein Zündholz an, auf daß Mariechen sich nicht fürchten sollte. Bensen und Tetschen sausten vorüber und nun ging es über die Elbe mit den Zillen, Dampfschiffen und Kettendampfern.
Das Tetschener Schloß und die Schäferwand wurden bewundert und ich dachte mir im Stillen, wenn wir doch auch da wohnen könnten. Am Bodenbacher Bahnhof wurde stets ein Kaffee mit den gefüllten Hörnchen getrunken, während
der liebe Papa auf sächsischer Seite des Bahnhofs die Billets nach Dresden löste. Auf sächsischer Seite waren hinter den Schaltern unter Glas grünseidene Vorhänge. Die Zollbeamten sprachen in sächsischer Mundart und
machten in ihren properen Uniformen mit den breiten Mützen einen äußerst gemütlichen Eindruck. Nach Dresden vor Pfingsten war der Zug, welcher sehr lang war, gewöhnlich voll besetzt, aber da wir bald einsteigen durften,
gab es auch noch Fensterplätze. Die liebe Mama setzte sich stets auf die Felsenseite und schätzte sich ein bißchen Ruhe. Für uns gab es auf der Elbe sehr viel zu sehen. Besonders interessierte uns das Wachtschiff an der
sächsischen Grenze, welches die ganze Nacht beleuchtet war und diensthabende Zollbeamte barg. Der Philosoph hat in einem seiner Bücher geschrieben: „Hinter den schwarzweißen Grenzpfählen weht ein anderer Wind.“ Davon
hatte unser Papa gesprochen und wir fühlten uns mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele zum deutschen Vaterlande gehörig. Königstein und Lilienstein, wo Napoleon seine Kanonen hatte hinauf bringen lassen, um
den Königstein zu bombadieren, wurden mit gebührender Achtung bewundert. Pirna mit dem Sonnenstein, der großen Landesirrenanstalt wurde mit erstaunten Augen betrachtet. Damals konnte noch niemand ahnen, daß unser
kleiner Bruder Arnold dereinst seinen Fleiß und seine Tüchtigkeit hier erproben werde. Wir sahen alles mit verklärten Kinderaugen an, auch Niedersedlitz, die letzte Station vor Dresden, sogar die großen Gasbehälter. Als
dann am böhmischen Bahnhof die Türen mit dem verheißungsvollen Ruf „Dräsden, Dräsden“ aufgerissen wurden, fühlten wir uns dem Himmel näher. Eine Droschke wurde gemietet, aus welchem Anlaß der Kampf um den
Kutscherbocksitz entbrannte. Es wurde entschieden: „Nach der Reihe“. Und fröhlich und selig saß der Glückliche hoch oben. „Tap, tap“, ging es auf der Asphaltstraße in die Stadt. Hotel „Fürst Bismarck“ voll besetzt, so
ging es dereinst weiter von Hotel zu Hotel. Ob wir damals in „Webers Hotel“ die Unterkunft gefunden hatten, ich weiß es nicht mehr. „Webers Hotel“ mit den Turm an der Ostra Allee hatte den ersten Lift und wurde aus
diesem Grunde von uns Kindern besonders bevorzugt. Früh war man gleich im Zwinger, wo die großartigen Museen und die Bildergalerie waren. Der Aufenthalt in Dresden an Papas Hand war das Paradies unserer Kindheit, dem
nichts gleich kam. Der Sinn für alles Erhabene, Edle und Schöne wurde dort in unsere Herzen gepflanzt und warf sein verklärendes Licht durch’s ganze Leben auf uns Kinder und die Enkel. Nach Pfingsten folgte
aus dem Alltag herausgehoben das Fronleichnamsfest. Schon am Nachmittag vorher schickte uns die liebe Mama nach Gänselatschen (botanisch das Frauenmäntelchen genannt) und nach Vergißmeinnicht. Beides wuchs am Ufer
unseres Mühlteiches. Die liebe Mama band hernach kunstvoll vier kleine Kränzeln, welche sie mit kaltem Wasser bespritzte und auf die Steinplatten bis zum nächsten Morgen ins Gewölbe legte. Früher als sonst an Sonntagen,
wurden uns die Sonntagskleider angezogen. Gewöhnlich hatten wir alle vier Kinder neue Strümpfe bekommen. Wir versammelten uns in den Klassenzimmern. Auf dem Wege zur Kirche war frisches Heu gestreut und vereinzelt
dazwischen Pumpelrosenblätter. Die Statue des heiligen Johannes war mit Birken und Blumen in Vasen geschmückt, vor der Kirche und bei den Altären allenthalben junge Birkenbäumchen. Frau Lehrer Simon, die
Handarbeitslehrerin, im Dorfe als Strickfräulein bekannt, tat sich schwer mit einer großen Schar weißer Blümelstreumädchen, die in den Händen Körbchen mit zerpflückten Blumen trugen. Das Haar in Locken und jede ein
Kränzlein am Kopfe. Da alle ohne Hut gingen, durfte ich kein weißes Mädel machen, nachdem ich einmal an Sonnenstich erkrankt gewesen war. Bei meiner kleinen Schwester wurde dieses Verbot später aufgehoben. So zog ich
mit meiner Klasse hinter den Blumenstreumädchen her. Die Krausenanna fürchtete auch die Sonne und war wie ich im bunten Sonntagskleid mit Hut. Die Brüder in Sonntagsgewändern gingen 2 zu 2 getrennt von den Mädchen an
der Seite des Lehrers. Die Prozession gefolgt vom Vorsteher und den Gemeinderäten hinter dem Himmel bewegte sich den Kirchberg herunter. Im Garten stand stets die Sobennanne zwischen den Sträuchern. Sie war an jenem
Tage immer ganz sauber angezogen mit neuem Kopftüchel, weil sie als Köchin fungierte. Unsere liebe Mama trug zur Feier des Tages stets ein Seidenkleid, dazu meistens einen neuen Hut. Der erste Altar war bei Lerchen, der
zweite bei Hahnel der dritte beim Gürtler Fleischer und der vierte bei Helmich. Auf dem Platz bei Lehrer Simon und Kolditz hatte die Feuerwehr ihre Leitern aufgestellt und mit Birken und Blumensträußen geschmückt. Sehr
gut gefielen mir zwei Schulmädchen in Feuerwehrtracht. Jedes Mädchen hatte an einem Lederriemen ein kleines Fäßchen mit Schnaps umgehängt. Das waren die Marketenderinnen, welche beim Marschieren in Reih und Glied mitten
im Zug gingen. Außer der Feuerwehr war auch der Veteranenverein mit zwei Marketenderinnen und die Turner in ihren großen grauen Hüten ausgerückt. Die Musik stellte der Turnverein. Alle Jahre wurde das schöne Lied
gepielt und von der Schule gesungen. „O Engel Gottes eilt hernieder und stimmt mit ein in unsere Lieder“. Dieses Lied, welches nur zu Fronleichnam gesungen wurde, gefiel besonders unserem Papa, der stets hinter dem
Treibhaus stehend zuhörte, bis es im Oberdorfe verklungen war. Wenn wir nach dem Umzug zum Mittagessen heimkamen, erinnere ich mich, daß ein Geruch von Gurkensalat einladend das ganze Haus durchströmte. Es gab stets
Nierenbraten vom Kalb, was Mamas Lieblingsspeise war. Ich entsinne mich, daß zur Essenszeit stets die Eisertschneiderin im Unterrock, einen Krug Bier holend, auf der Straße vorüberging. Nachmittags war am Fronleichnam
stets Gartenkonzert im Gürtler Ferdinandsgarten, wo hölzerne Tische und Bänke unter den Kastanienbäumen aufgestellt waren. In unserem Garten fanden sich stets Mamas Freundinnen mit ihren Kindern zum Zuhören und Sehen
ein. Es war zumeist schönes Wetter. Als nächster ganz besonderer Feiertag folgte am 29. Juni unser Kirchenfest Peter und Paul. Diese beiden Apostel waren auf dem Altarbild unserer schönen in weiß und gold
gehaltenen Malteserkirche gemalt. Außerdem standen sie aus Stein gehauen zu beiden Seiten des Altars, Petrus mit einem vergoldeten Schlüssel in der Rechten. Als Kind bedeutete Peter und Paul für mich das zweitschönste
Fest des Jahres. Bereits einige Tage vorher kam schon Meister Kohlmann mit seiner Reitmaschine, wie sein Ringelspiel im Dorfe benannt wurde. Es war stets mein erster Weg nach der Schule, um nachzusehen, wie weit der
Aufbau der Reitmaschine fortgeschritten war, die ebenfalls auf dem Dorfplatze bei Lehrer Kolditz samt den dazugehörigen Wohnwagen stand. Holzpferde und Kutschen wurden von vier starken Jungen im Kreise gedreht, die
oberhalb im verdeckten Speicher das Werk in Bewegung setzten, wozu ein großer Leierkasten Musik machte. Am Festmorgen trachteten wir Kinder zeitig aus den Federn heraus. Auf der Straße hörte man schon das Pfeifen und
Pfietschen der Lärminstrumente, wozu auch die kleinen Mundharmonikas gehörten. Nach dem Frühstück mit Kirschbuchte oder Streuselkuchen erhielt jedes Kind vom Papa einen Silberzwanziger und von der lieben Mama einen
Silberzehner. Ein kleines Brieftaschel wurde herzugesucht oder neu gekauft, denn auf dem Kirchberg standen zu unserer großen Seligkeit ja die Buden, wo wir für unser vieles Geld kaufen konnten, was uns am besten gefiel.
Sehr lange kaufte ich mir gewöhnlich garnichts und ging von einer Bude zur anderen, wo alle Herrlichkeiten für ein Kinderherz ausgebreitet lagen. Zumeist kaufte ich als erstes dann ein sogenanntes Hauchbild mit einer
Kirche, welches sich auf der warmen Hand beim Anhauchen zusammenrollte. Sodann das silberne Fingerringel aus Zinn, wo der Gekreuzigte aufgepreßt war. Nach der Kirche, wo ein feierliches Hochamt mit drei Geistlichen
zelebriert wurde, ging es auf die Reitmaschine. Mit Ausnahme der Mahlzeiten ging es immer den Berg hinauf und hinunter. Im Garten blühte der Jasmin und dufteten die Jakobslilien. Nichts konnte antreten mit der
Feststimmung im Herzen. Nachmittag ging die liebe Mama in die Kirche und schüttelte den Kopf, wenn ich sie zum Sauregurkenfasse führte und dann einen Feigenkranz erstand. Das Geld für die Reitmaschine wurde am nächsten
und übernächsten Tage aufgebessert. Sodann verließ die Familie Kohlmann Wolfersdorf, um erneut in Politz, wo die Wallfahrt am ersten Sonntag im Juli ihren Anfang hatte, ihr Ringelspiel mit allem Glanz und Schimmer am
Marktplatz nahe der Brücke, welche über den Polzenfluß führte, aufzubauen. Während des Politzer Festes, zu welchem Wallfahrer von weit und breit kamen, hatten die Volksschüler am Mittwoch schulfrei. Der Lehrkörper
samt der Geistlichkeit von Wolfersdorf war an jenem Mittwoch beim Dechant in Politz zur Festtafel eingeladen. Unsere schönsten Kleider lagen für diesen Festtag für uns Kinder vorbereitet über den Stühlen. Die liebe Mama
half schon in aller Frühe in einem weißen Unterrocke beim Anziehen ihrer lustigen Vier. Wieder bekamen wir eigenes Taschengeld, aber mir scheint etwas weniger als am Feste in Wolfersdorf. Allen voran waren die Brüder,
einmal war auch Paul aus Parchen dabei. Die kleine Rieche wurde früher bis Staupen getragen. Später marschierte sie tapfer an Mamas Hand mit. Wie lang mir der Weg erschien, bergauf an wallenden Kornfeldern vorüber,
zwischen Schossen- und Jahnelberg hinunter nach Schossendorf wo die Siebmacher zu Hause waren. Unterwegs blühten alle Jahre die wilden Heckenrosen und auf den Bäumen färbten sich die ersten Kirschen rosa. An der Tür der
ebenerdigen Schossendorfer Schule wurde halt gemacht. Die liebe Mama verständigte die kleine Frau Oberlehrer Maras, welche gleichzeitig Handarbeitslehrerin war, daß wir auf dem Wege nach Politz wären, denn nachmittags
kam die Frau Oberlehrer mit ihren Sprößlingen nach. Unser Weg über Wiesen an Ackerfeldern vorüber war nicht einwandfrei, was das Schuhwerk anbetraf. Mir scheint, es hatte gewöhnlich vorher auch geregnet, denn immer
machte die liebe Mama in Staupen Station vor einem kleinen Einkehrhause, bestellte fünf kleine Rosenliköre und ersuchte jedesmal die Wirtin sie möchte uns vor der Politzer Kirche die Schuhe ein bißchen putzen. Da kam
ein Wichskasten zu Tage und wir saßen nacheinander still auf der Bank vor dem Hause, wo uns die Schuhe mit schwarzer Wichse geputzt wurden, was die liebe Mama extra bezahlte. Dann ging es im Tempo über einen hölzernen
Steg, zwischen welchem große Steinplatten lagen und so gegen 11 Uhr kamen wir endlich in die schöne Wallfahrtskirche, vor welcher in früherer Zeit unzählige Bettler, Blinde, Lahme, Blöde usw. in langer Reihe vor dem
Eingang saßen. Mama hatte extra ein ganzes Sackl Kupfermünzen und gab jedem. Die Kirche war gestopft voll. Eine Kerze wurde angezündet. Der Duft von Rosen und Lilien war betäubend. Manche alte Leute schliefen, andere
packten oben auf der Empore Buchten zum Essen aus. Mittags gingen wir in früheren Jahren zumeist in den großen Gasthof „Zur Post“ essen. Oben war im Saal weiß gedeckt. Schon im Stiegenhaus roch es verheißungsvoll nach
Gurkensalat. Im Hofe standen viele Kutschen, auch sogenannte Steuerwageln. Dazwischen liefen Enten, Gänse und Hühner umher. Man konnte in die Küche sehen, wie sie auch zum Braten für die Wallfahrer hergerichtet wurden.
Gewöhnlich gab es eine Nudelsuppe und dann bestellte die liebe Mama Schnitzel für uns. Nur einmal war der liebe Papa mit dem Kutschel nachgekommen und bestellte Ente. Nach dem Essen ging es im Laufschritt in die Buden.
Da war hinter der Mordgeschichte zuerst die stattliche Bender Bude aus Leipa mit Nußtorte, Punschkrapferln, Afrikanern und Schaumrollen. Der Kampf gegen die Wespen war ein ständiger und erbitterter. In ausgeräumten
Scheuern, wo die großen Türen sperrangelweit offen standen, war Bilderverkauf. Hauptsächlich wurden kleine Heiligenbilder zum Verkauf als Mittebringe angepriesen. Verkaufsstände mit allem möglichen Krimskrams,
dazwischen immer wieder Zuckerläden, zog sich an beiden Seiten des Kirchenweges hinauf bis zum Kreuzgang. Unten am Markt waren die Schiffschaukeln, das Ringelspiel und Läden mit Schürzen, Blusen und Wäsche. Die liebe
Mama ging jetzt zum Segen in die Kirche mit uns Kindern, wo wir auch die Frau Oberlehrer Maras mit ihren Kindern trafen. Nachher war Kaffee mit Komikerkonzert auf dem Postsaal. Einige trafen wir in Politz, auch Mamas
Schwester, die Muhm Toni mit den Cousinen Mili, Martha und Tonel, die dann den weiten Weg zu Fuß bis nach Parchen zurücklegten. Für gewöhnlich jedoch gingen wir mit Frau Oberlehrer Maras über Schossendorf, wo am Abend
schon die Grillen zirpten, heim. Am Schossenberg wurde noch das Echo angerufen, hier und da eine Erdbeere am Wege gepflückt, und wenn der Tau die Wiesen netzte, erblickten wir den Wolfersdorfer Kirchturm wieder und
rollten gleichsam den Berg der letzten Anhöhe über Wünschens Wiese herunter durch das knarrende Gartentürl an den summenden Bienenstöcken vorüber zur Hintertür in das stille Haus hinein. Im Garten blühten der
Rittersporn, Rittereisenhut, die brennende Liebe und Zentifolien, das waren die rosa Rosen, auch weiße daneben. Nun war der Schulschluß nicht mehr fern. Zu unseren größten Sommerfreuden gehörte das Barfußgehen. Zuvor
mußte in der Apotheke gefragt werden. Niemals war es erlaubt bloßfüßig die Schule zu besuchen. Am 20. Juli übergab unser Papa seine amtliche Tätigkeit dem Neustadler Arzt, packte seinen Koffer und überließ uns nach
ernsten Ermahnungen Mamas Obhut. Abends kam stets ein sogenannter Schlafwächter, für den ein Bett im Wartezimmer aufgeschlagen war. Er saß zuvor am Familientisch bei einer Schnitte über’s ganze Brot mit Butter und
Quargel, dazu einen halben Liter Bier. Ich hatte stets ein eigenes banges Gefühl, wenn der Papa fort war. Die Lider der Apotheke blieben geschlossen, das Bienenhaus abgesperrt. Auf der lieben Mama lag die ganze
Verantwortung, selten kam ein Brief, Karten gab es in damaliger Zeit noch nicht. Dafür war es dann eine außerordentliche Freude für uns Kinder, wenn vom Postamt aus Meistersdorf ein Telegramm mit einer unscheinbaren
Botenfrau an Pauline Lorenz überbracht wurde. Wir stimmten ein Freudengeheul nach Indianerart an. Noch am Abend wurde der große Reisekorb vom Boden heruntergeholt und zwei der Kinder saßen in Vorfreude darin, bis die
liebe Mama alles was vier Kinder für eine Woche brauchten, zusammen getragen hatte. Bändel und Knöpfel wurden noch angenäht, auch manches noch gewaschen und gebügelt. Gewöhnlich war für den nächsten Tag dann der
Zweispänner von Bauern Franz bestellt. Vorn auf dem Bock wurde der Reisekorb aufgebunden und wir Kinder stiegen mit einem unbeschreiblichen Hochgefühl in den feinen Wagen mit zwei Fenstern und extra noch einem zum
Kutscher hinaus ein. Wir fuhren durch das Oberdorf hinauf übers Neudörfel, Meistersdorf, Grasdorf, Freudendorf, Markersdorf an der Warzschmiede vorbei hinauf nach Guntersdorf, wo der Kutscher zur Entlastung der Pferde
abstieg und zwei von uns Kindern auch neben dem Wagen hergingen. Am Straßengraben standen Ebereschen, deren Beeren sich anfingen rot zu färben. Auf der Waldseite suchten wir dabei nach vereinzelten Erdbeeren. Endlich
war die Guntersdorfer Höhe erreicht, wo Papa bei anderen Fahrten stets Halt machte und ein Lindenblatt abpflückte. Nach dem Einsteigen ging es in schnellem Trapp bergab. Wir Kinder spähten aufmerksam nach links, wo bald
hinter dem Fichtenwald, weit in der Ferne ein silberner Streifen, die Elbe auftauchte. Wer hatte sie zuerst gesehen? Steil ging die Straße nach Losdorf bergab. Bindwerkhäuser mit fruchtbaren Gärten waren aufgetaucht.
Ein Bahndurchgang und gemächlich fuhren wir auf breiter Straße in Tetschen durch geschlossene Häuserreihen dem Markte zu. Der Tetschener Markt mit seinem schönen Brunnen machte deshalb einen besonderen Eindruck auf uns,
weil hinter ihm die Häuser überragend, bewaldete Berge zu sehen waren, was außer seiner Größe einen romantischen Zauber bildete. Im Hotel „Zur Krone“ wurde der Reisekorb abgeladen und ein Zimmer mit vier
Betten gemietet. Nach dem Essen war unser erster Weg zur Elbe, wo die grünweißen Dampfer der Böhmisch-Sächsischen- Elbeschiffahrtsgesellschaft nach Leitmeritz auf böhmischer Seite und bis Mühlberg auf sächsischer Seite
fuhren. Welche Welt für uns, die sich vor unseren Blicken öffnete. Daneben fuhren Leitmeritzer Obstzillen oder andere mit Kohle beladene, aus dem reichen Böhmerlande hinaus ins Reich bis nach Hamburg. Zur damaligen Zeit
war die Elbe noch nicht reguliert, da konnten wir Kinder stundenlang am Elbufer nach Muschelschalen suchen, während die Mama am Ufer zwischen lavendelblauer und Wegwarte mit aufgespanntem Sonnenschirm saß. Es herrschte
reges Leben an der Elbe. Mit großem Wohlbehagen zogen wir die Wasser- oder Teerluft ein, sahen den Kränen zu, welche unablässig Baumwollballen ausluden. Alles aus den für uns riesengroßen Zillenleibern aus Hamburg,
welche Kastendampfer oder Remonteure stromaufwärts bis nach Tetschen vor und hinter der Kettenbrücke gebracht hatten. Es gab auch zwei Schwimmschulen mit Familienkabinen die wir nur in Papas Beisein besuchten, der mir
einmal in Bodenbach sogar Schwimmunterricht erteilen ließ. Glücklich wie ein Königskind fühlte ich mich damals, war ich doch wie Papas Junge. Vom Wege abgeirrt möchte ich von jenen Tetschener Tagen in der „Krone“
weitererzählen, wohin uns Papa bestellt hatte, mit der Weisung unsere Mahlzeiten aufschreiben zu lassen, bis er uns abholen werde. Unentwegt wanderten wir an den Nachmittagen täglich zum Schnellzug, tranken dabei am
Bodenbacher Bahnhof unseren Kaffee. Wer nicht kam, war der liebe Papa, worauf wir kleinlaut den weiten Rückweg nach Tetschen antraten. Besorgt zählte unsere Mama ihre Barschaft und sprach ernstlich davon, daß sie, wenn
sie die Rechnung von vier Tagen bezahlen sollte, ihre goldene Uhr samt Kette verkaufen müßte. Sie kaufte Brot und Butter, Zucker und Zitronen, um am Zimmer zu nachtmahlen. Am nächsten Nachmittag marschierten wir in
heißer Sonne wieder zum Bodenbacher Bahnhof. Wir saßen an einem gedeckten Tisch, als die Reisenden durch die geöffneten Glastüren vom Bahnsteig herein strömten. Alle anderen überragend, erkannten wir an jenem Nachmittag
den langersehnten Papa. Ganz verändert erschien er uns in einem neuen grauen Reisemantel mit langem Kragen aus der Schweiz, das Gesicht sonnengebräunt, die Nase schälte sich und seine Augen strahlten, als er eins nach
dem anderen von seiner Bande, wie er uns nannte, begrüßte. In der Hand trug er eine mit Stoff und Riemen bekleidete Reisetasche in schweizer Format, ein von uns mächtig geliebtes Stück, das uns damals sehr imponierte.
Den Jubel, der damals unsere Kinderherzen erfüllte, vermag ich nicht zu beschreiben. Es bleibt mir unvergeßlich, wie glücklich wir waren, als er die Mama am Arm mit uns Kindern im Gefolge den Bahnhof verließ, um uns in
der „Krone“ zu Tetschen am Markt auszulösen. Mit Eilzügen war er von Vevey aus der Schweiz Tag und Nacht heraus gefahren. Das lange Sitzen auf den Holzbänken spürte er noch einige Tage. Damit wir eine länger dauernde
Freude haben sollten, hatte er uns vor seiner Ankunft nach Tetschen beordert. Der Parchener Großvater erklärte später: „Aber Pauline wie konnten sie denken, daß Otto aus Vevey in zwei Tagen zurück sein konnte?“
Jedenfalls fuhren wir damals alle noch einen kurzen Abstecher nach Dresden, von welchen märchenhaft glücklichen Reisen ich ausführlich an anderer Stelle erzählt habe. Das Erwachen wieder daheim in den
Augusttagen war stets von dem lustigen Geklapper der Dreschflegel begleitet, was heimatlich in unseren Ohren erklang und abwechselnd von verschiedenen Scheuern der Nachbarschaft ertönte. Es gab einen Vier- bis Fünf- und
Sechsschlag, je nach der Anzahl der Drescher. Dreschmaschinen waren in jener Zeit noch nicht vorhanden. Von vis-á-vis hörte man die Brettsäge oder hörte sie eigentlich nicht, da sie zu den bekannten Geräuschen des
Alltags gehörte. Nur in der Nähe der Brücke konnte man das Mahlen und Klappern der Mühlsteine hören. Es war nicht die Mühle im Schwarzwald, sondern die Rußmühle, wie die Krausenbäuerin die Mühle des schwarzen Mehles
wegen benannte. Zu unserem besonderen Ferienvergnügen gehörte das Angeln und Fischen im Bach. Bruder Arnold traf es am besten, aus Stecknadeln, die er zu Angelhaken zurechtbog und an einem langen Faden
befestigte. Schmerlen und Ältische, das waren die heimatlichen Fische, aus dem Bache zu angeln, die in Butter gebraten köstlich mundeten. Diese beiden Fischlein waren sehr zahlreich den ganzen Bach entlang samt
unzähliger Brut zu sehen. Später wurden Forellen ausgesetzt, die als Raubfische den früheren dörflichen Fischbestand radikal vernichteten. In unserem Garten blühte in allen Farben der süß duftende Flox, und
vereinzelt begannen schon Georginen und Dahlien sich zu entfalten. Hinter den Küchenfenstern wurden Artischocken geerntet und die weißen Schmetterlinge legten ihre Eier auf die Blätter des Winterkohls, weshalb wir
häufig zum Raupensuchen verpflichtet wurden. So kam Laurentius das Parchener Kirchenfest heran. Es gehörte zu unserem ganz großen Vergnügen, wenn wir von der lieben Mama mitgenommen wurden. Der Weg über die Waldwiesen
war ein anstrengender für die liebe Mama. Allenthalben zirpten die Grillen, der Wind wehte zwar in Wolfersdorf bereits über die Stoppeln, aber in Parchen waren die Haferfelder noch grün und auf den sogenannten Hutschen
stand das Gras. Der Weg erschien uns Kindern endlos und doch so romantisch, wenn auf der Sonneberger Straße die Milchwageln mit kleinen Ponypferdeln und Eseln vorgespannt, entgegenkamen. Die Parchener
Häuser, welche nicht aus Holz waren, hatten unter dem Wetter in der kalten Jahreszeit viel zu leiden. Ständig wehte das Parchener Lüftel, wie die liebe Mama es bezeichnete. Und doch hing ihr ganzes Herz daran. Bei der
Muhm Toni angekommen, erspähte ich zuerst im Garten die hohe Leiter an dem Glaserkirschenbaum, was zu Laurenti gehörte, wie der gedeckte Kaffeetisch mit dem roten Tuche und den Kuchenbergen. Es war stets ein sehr
herzlicher Empfang und ein wunderschönes Erleben bei den drei Cousinen und den zwei Cousins. Zumeist blieben wir über Nacht und traten erst am nächsten Tag begleitet von den meisten Familienmitgliedern den Heimweg an,
beschenkt mit kleinen Biergläsern, Körbchen oder Veilchenvasen aus buntem Glas, bemalt und sorgfältig verpackt. Am ersten September begann in Wolfersdorf damals die Schule mit den neuen Heften, Schulbüchern, Griffeln
und Federbüchsen. Der liebe Papa baute uns einen Drachen und es war eine große Freude, wenn wir ihn bei Wind konnten steigen sehen. Mit der lieben Mama gingen wir zuweilen in den Wald um Schwämme zu suchen, wenn an
Mittwoch- und Samstagnachmittagen keine Schule war. Wir fanden wenig, aber der Wald mit seinem immer gleich bleibenden Rauschen und den munteren Eichkätzchen übten den Zauber der Natur auf uns aus. Nun nahte die Zeit
der Kartoffelernte, wo die Feuer des dürren Kartoffelkrautes auf vielen Feldern brannten. Es war uns streng verboten in die Nähe zu gehen, damit unsere Kleider nicht in Brand geraten sollten. Es gab dabei gebratene
Kartoffeln aus der glühenden Asche, welche wir ab und zu geschenkt erhielten. Im Garten wurde das Obst, Äpfel und Birnen gepflückt. Aller Leibspeise waren die Pflaumenknödel, die mehrmals in der Woche auf
den Tisch kamen. Die Zeit der Kirchweihfeste begann. Aus Oberliebich brachten die Bauersfrauen alle möglichen Kuchen, so daß oft das Piano auf der oberen Stube voll davon war. Unsere Kirchweih war die letzte, eine Woche
nach Allerheiligen. Abermals ein großer Tag für mich war das Kuchenbacken. Wieder einmal wurde die Schule geschwänzt. Ich war in meinem Elemente. Schon am Tag zuvor wurden große Vorbereitungen getroffen. Die Sobenanna
war ganz Regens chori und trug alles was benötigt wurde zusammen. Der alte Kinderwagen, unser Museumsstück vom Boden war unten im Vorhaus bereit, um alles Nötige für den Kuchenbäcker zu transportieren. Unser Bäcker
Langer, mit dem Hausnamen der Patzbäcke benannt, war ein älterer Mann mittlerer Größe mit einem grauen Backenbart zu beiden Seiten des Gesichts und buschigen Augenbrauen. Die rundliche Patzbäckin mit bläulichen Lippen
hatte einen ausgezeichneten Ruf, das beste Flasel und Steusel anzurichten. Ihr Sohn Hermann mit behaarten, muskulösen Armen bekannt durch große Körperkraft, besorgte das Mohnreiben, den Liter Mohn in einer viertel
Stunde. Außerdem gehörte zum Hausstand die alte Magd Regine. Im halben Vormittag kam ich dann gewöhnlich an der Seite des vollbeladenen Kinderwagens mit der Sobenanna an. Die liebe Mama ging den Wiesenweg und war in der
Backstube dabei, wenn 30 Pfund Mehl abgewogen wurden, die dann zugleich zu Kuchenteig in die Backmulde kamen. Gewöhnlich lag da schon das ganze Vorhaus voll neubackener Kuchen auch von Nachbarsleuten, welche ihre Kuchen
auf langen Brettern nur zum Einschieben in den Backofen gebracht hatten. Die Kirmst bedeutete für den Bäcker und seine Familie eine harte Zeit. Während drei Tagen und vier Nächten kam keiner in ein Bett. Während draußen
zumeist Straßen und Wege schon hartgefroren waren, herrschte in der großen Bäc kerstube eine wohlige Wärme und ein köstlicher Geruch nach neubackenen Kuchen und Gewürzen aller Art. Wir saßen auf den Bänken um den Tisch
in der Ecke. Es ging zu wie bei den Heinzelmännchen. Jeder hatte eine andere nützliche Beschäftigung. Die liebe Mama rührte die verschiedenen Flaseltöpfe an. Die Sobenanna schnitt Mandeln oder rieb Pfefferkuchen. Ich
setzte den Mörser in Tätigkeit oder war mit dem Ausklauben der Rosinen beschäftigt, mußte auch ab und zu in den nächsten Kramladen springen um noch dies und das, was zu wenig erschien, zu ergänzen. Mittags holte ich zu
Hause einen großen Krug Kaffee für uns so wie für die ganzen Bäckersleute. Dazu gab es an diesem Mittag nur Semmeln als Mahlzeit. Nachmittags ging dann das Klecksen der Kuchen an, was mit großer Sorgfalt geschah. Ich
durfte die Ränder mit zerklopftem Ei bestreichen und die Mitte mit Milch. Darauf wurde geriebener Pfefferkuchen gestreut oder gelber Quark geschmiert und dann folgte die bunte Reihe der verschiedenen Obstflasel, des
Mohns und Streusels. Bis in die tiefe Dämmerung des kurzen Herbsttages wurden über hundert Kuchen fertig gebacken. Jetzt erschienen die Geschwister und bemächtigten sich der bereit gestellten Riesentöpfe um die letzten
Reste des Flasels zu vertilgen. Dabei wurde ein allgemeiner Kaffee beim Bäcker gekocht und in vergoldeten Kaffeetipfeln aus der Patzbäckin ihrem Glasschrank serviert. Während die liebe Mama frisch gebackenen Kuchen
aufschnitt, nahm sich jeder ein Viertelstündchen Zeit die allgemeine Kostprobe vorzunehmen. Sodann rechnete die liebe Mama mit dem alten Bäcker ab. Der Frau zahlte sie die Butter für das Streusel. Das Backen und die
Mühe wurde, wie ich mich genau erinnern kann, mit etwas über zwei Gulden berechnet. Hermann bekam ein gutes Trinkgeld. Desgleichen Regine, welche stets die Bleche schmierte und das Geschirr aufwusch. Über hundert Kuchen
wurden dann nach und nach im Kinderwagen von dem Dienstmädchen und der Sobenanna transportiert. Alle Jahre nach uns buk die Kaspar Hegerin aus dem Schossenwalde ihre Kuchen. Mich interessierte es vor allem, daß zwei
große Krüge mit Schmetten (Sahne), welche genau die Form hatten, wie sie in Goethes getreuem Eckart abgebildet sind, zum Kuchen einmachen bestimmt, in der Backstube standen. Die Kaspar Hegerin hatte für
mich etwas Anziehendes, wohl weil sie im Walde wohnte, eine andere Sprache sprach und mich in der Geflügelzucht unterwies. Zuweilen brachte sie in ihrem großen Landkorbe einen Hasen. In früheren Jahren war es zumeist
die große Anzahl von Leierkästen, die unablässig von früh bis nachmittags von Invaliden und anderen Männern und Weibern vor dem Hause leierten und zu dem Rahmen der Kirchweih gehörten, neben vielen Bettlern. Auf der
Straße sah man Bekannte mit ihren Kirmstgästen vorübergehen. Mittags gab es gewöhnlich einen Gansbraten. Unsere guten Kuchen verschönten durch Wochen unsere Kaffeestunden. Die Bäc ker ruhten sich aus. Es wurde lange
Zeit nur Brot gebacken. Im Garten sah es spätherbstlich aus. Viele Beete waren mit Reisig bedeckt, die Pumpe in Stroh gehüllt. Die Linde und der Wildgarten waren ihres Blätterschmuckes beraubt. Im Garten liefen
Schlachthähnchen herum und die Bienen hielten Winterschlaf. Das Krippemoos wurde eingeholt und brachte eine geheimnisvolle Vorweihnachtsstimmung mit sich, obzwar es stets in einem großen nüchternen Spreukorb geschah.
Unser Krippel wurde gewöhnlich erst einige Tage vor Weihnachten aufgebaut. Der Nikolaus war schon hier gewesen und hatte in unsere Kinderstrümpfe Nüsse, Feigen und ein paar weiße und bunte Zuckerstückeln, während wir
schliefen, hineingetan. Die Freude war stets eine ganz große. Es war Mamas Nikolaus, Papa hatte nie etwas von ihm bekommen. Dafür hatte er großen Sinn für ein Krippel, wozu er eigenhändig eine Wandstadt mit
Rheinburgen gemalt hatte. Da war eine Stadt mit einem Marktplatz, in der Mitte eine Krippe mit der heiligen Familie, Ochs und Esel im Hintergrund, ein Moosberg mit Lämmern und Hirten, eine Jagd mit Jäger, Fuchs, Reh und
Hasen. Das Interessante unter dem zweiten Moosberg, ein betender Einsiedler, nicht zu vergessen der Geizhals, welcher in der Stadt ein Fenster öffnete und herauswinkte. Der Engel wurde alljährlich an einem Haar von Mama
feierlich mit Siegellack an der Decke über der Krippe befestigt. „Gloria in excelsis dei.“ Das hehreste Fest des Jahres war Weihnachten, das heißersehnte, wo es kaum Tag werden wollte und ich meinen
Namenstag feierte, den schönsten vor allen anderen. Es gab frisch gewaschene Bettüberzüge und reine Vorhänge. Wir wurden am Abend gebadet. Zuvor gab es köstliche Fischsuppe und Schwarzkarpfen, später Backfisch und vor
dem Zubettgehen ein Tipfel Schokolade mit Christbrotel. Vor dem Schlafengehen schauten wir am Himmel nach dem lichten Fleckel aus, wo das Christkindl herunter kommen sollte. Wie fröhlich und selig wir da einschliefen,
denn morgen in aller Frühe hofften wir, daß es in der Nacht dagewesen sein wird. Wirklich erwachten wir früher als sonst und wollten es nicht erwarten können, bis wir die Sonntagskleidchen angezogen bekamen. Endlich
ging der liebe Papa die Stiege hinauf, um nachzusehen, ob er oben einen Lichtschein erblicken werde, und nach geraumer Zeit folgten wir ihm in andächtiger Stimmung leise, leise, auf daß wir das liebe Christkindl nicht
stören wollten. Eins nach dem anderen lugte durch das hell erleuchtete Schlüsselloch, und dann wurde die Türe geöffnet und ein Himmel auf Erden tat sich auf. Ein Lichtermeer empfing uns; ein Christbaum bis an die Decke
hinauf stand mitten im Zimmer. Ein unbeschreiblich wundervoller Duft durchströmte die obere Stube von einer wohltuenden Wärme erfüllt. Am Christbaum selbst erglänzte viel Gold und bunte Wachskerzen brannten. Einzelne
Figuren bewegten sich noch auf und nieder, so mußte das liebe Christkindl erst kurz vorher die schönen und guten Sachen gebracht haben. Für jedes Kind lag ein Zettel bei seinen Geschenken, auf verschiedenen Plätzen
verteilt. Die große Nickellampe brannte, auch Papas Augenspiegellampe und die Hängelampe. Gottes Wunder überall, war das Petroleumrot in den Lampen. Mein Liebstes waren die Bilderbücher. Papa und Mama gingen mit uns von
einem Tisch zum anderen und staunten über die schönen Geschenke. Als dann der Christbaum ausgelöscht war und die Lampen abgedreht, wurden die Lider aufgeschoben und der helle Dezembertag blickte herein auf unsere
Seligkeit. Sodann wurde der Kaffee getrunken mit Christbrot dazu und was das Schönste war, der liebe Papa spielte den ganzen ersten Feiertag mit uns, las aus jedem Bilderbuche vor und gab so dem Ganzen eine Weihe. Zu
Mittag gab es zumeist einen guten Hasenbraten. Niemand dachte daran das Zimmer zu verlassen. Es war ja Weihnachten! Gewöhnlich folgten Tage unbekümmerter Freude für uns Kinder. Es scheint, daß noch am
nächsten Stephanitage auf der oberen Stube gespielt werden durfte. Papa oblag wieder seiner ärztlichen Pflicht, ordinierte und fuhr im Schlitten zu seinen Patienten. So nahte allmählich der letzte Tag des Jahres,
der Silvestertag, heran. Der Briefträger brachte das Postbüchlein wofür er seinen Silbergulden erhielt. Auch den Wiener Boten bekamen wir mit der Post fürs neue Kalenderjahr ins Haus. Mit warmem Chenilleschal und Muff
ging die liebe Mama alle Silvester in den Jahresschluß und empfahl den lieben Papa und ihre vier Kinder dem Schutze der heiligen Maria. Wiederum wurde für jeden Schokolade gekocht und nachher ein halbes Täßchen Punsch.
Die liebe Mama blieb in der Regel bis zum Glockenschlag 12 auf, während der liebe Papa wie an anderen Abenden zur gewohnten Stunde zu Bett ging. So verlebten wir den letzten Tag des Jahres, wo die Lichter des
Christbaums noch einmal angezündet wurden nach dem Grundsatz, Silvester bleibt der Mensch unter sich und glücklich, geborgen schlummerten wir in das neue Jahr hinüber O Lindenduft , o Lindenbaum, ihr mahnt mich wie ein Kindheitstraum, Wo ich auch immer finde, die Linde lieb ich überaus, Es stand ja meines Vaters Haus, im Schatten einer Linde. |
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5. Kapitel
Dr. Karl Lorenz Zum Andenken an meinen Großvater, den berühmten Arzt und Geburtshelfer in Parchen gewidmet.
Karl Lorenz wurde im Jahre 1821 geboren als Sohn des Schneidermeisters Josef Karl geboren am 28. Juli 1799 in Hohenelbe, eingewandert in Steinschönau und getraut 6.11 1820 in
Steinschönau mit Marie Anna Schlenkert einer Tochter der Maria Anna Schlenkert und des Chirurgen, Wundarztes und Geburtshelfers Karl Friedrich Schlenkert, geboren am 28. März 1760, evangelisch getauft, getraut
11.11.1781 und aus Sachsen eingewandert, starb an einer Lungenentzündung am 8.6.1801 im Alter von 44 Jahren 3 Monaten. Ein Amtspaß, ausgestellt am 13. Juni 1782 vom hochfürstlichen brandenburgischen und kulmbachschen
Kassen- und Juristiktionsamtes zu Gefreeß für:
"Karl Friedrich Schlenker, ein Feldscher (Wundarzt) aus Bayersdorf in der Oberlausitz gebürtig, von langer Statur und einen blauen Rock tragend. Mit
beglaubigten Pässen anhero gekommen. Aller gottlob reine und gesunde Luft und von einiger Contagion nichts bekannt und von hier nach Holland zu reisen gedenkend, passiert Frankfurt am 8. Juli 1782 und reiset samt seiner
Frau nach Straßburg, wird der Aufenthalt auf einige Tage gestattet.
Schwalbach, den 18. Juli 1782".
Nach unserer Familiengeschichte hatte Karl-Friedrich Gottfried Schlenker, Freiherr von Klipphausen
(nach anderer Quelle: „Knipphausen“) als Student der Medizin in Leipzig ein Duell mit unglücklichem Ausgang für den Gegner. Er war daher über die Grenze nach Böhmen herein geflohen. Der damalige König von Sachsen soll
die Güter des Freiherrn eingezogen haben. Seine Witwe, welche nach seinem frühen Tode als Hebamme tätig war, sagte wiederholt zu meinem Großvater, als er ein Junge war, - Karl, dein Adelsbrief liegt in Neusalza. Dr.
Karl Friedrich Schlenker war der Begründer der Apotheke in der Allee zu Steinschönau. Großvaters Mutter, die Maria Anna Schlenker, wurde erst 5 Monate nach dem Tode ihres Vaters geboren. Sie hat wohl wenig gute Zeit
gehabt. Wie ihre Mutter erlernte sie den Hebammenberuf, dem sie gewissenhaft oblag und durch große Sparsamkeit ihrem hochbegabten Sohn Karl mit einem Massel ersparten Silberzwanzigern später, als der Domherr Ditrich in
Prag nichts mehr für die Ausbildung seines Schützlings übrig hatte, das Medizinstudium am Carolinum zu Prag ermöglichte. Der Großvater hatte vier Geschwister, einen Bruder und drei Schwestern, weshalb er sich
verpflichten mußte, seine Schwestern auszustatten. Die Lieblingsschwester, unsere Muhm Resel, erzählte ab und zu von der Zeit, als mein Großvater auf Ferien aus dem Leipaer Augustinerkloster daheim war und beim
halboffenen Ofentürl, um Licht zu sparen, lateinische Vokabeln lernte, – alauda cantat – blieb ihr unvergeßlich. Aus der Zeit seiner akademischen Jahre in Prag ist mir nur der Besuch bei seinem Protektor Pater
Ditrich nach Ankunft in Böhmens Hauptstadt an der Moldau bekannt. Zuversichtlich ließ sich der angehende Student bei dem inzwischen zum Domherrn avancierten Gönner anmelden und blickte voll Erwartung im Vorzimmer zu
einem Fenster vom Hradschin auf die hunderttürmige Stadt hinunter. Der Domherr, dessen Bild ich noch gesehen habe, war ein ernster, gar stattlicher Herr mit einem regelmäßigen Gesicht. Er soll erfreut seinen vormaligen
Schüler und Schützling begrüßt haben. Als ihm dieser jedoch die Mitteilung machte, er habe sich für das Studium der Medizin entschlossen, erstarrten seine Gesichtszüge wie zu Eis. Kalt wandte er sich mit den Worten ab:
„Ich kann für dich nichts mehr tun“. Ohne Händedruck war somit mein Großvater entlassen. Auf nichts gestellt, als auf die Ersparnisse seiner Mutter, die Silberzwanziger und auf den Inhalt des schwarzen Wäschekistels,
welches mit reiner Wäsche und Eßwaren, von einem Frächter mitgenommen, ab und zu per Achse nach Prag ging, da zur damaligen Zeit noch keine Eisenbahnen gebaut waren. Ob jenes schwarze Holzkistel später auch während
meines Papas Studentenzeit in Verwendung stand, ist mir nicht bekannt. Ich weiß nur, daß es Jahr und Tag im Stübel in der Nähe von Papas Bette stand, stets sorgfältig verschlossen war und Papas lederne Brieftasche,
seine Gedichte und besondere Lektüre, welche zeitweilig wechselte, Zeit seines Lebens enthielt. Oft erzählte er uns Kindern davon, wie Steinschönauer Fuhrleute bei Tag und bei Nacht das kleine schwarze Kistel als Fracht
in das ferne, goldene Prag mitnahmen. Dadurch erschien es mir lieb und wert, wie alles, was unser Papa unter Schloß und Riegel hielt. Aus Großvaters Prager Zeit stammten ungezählte, selbst zusammengenähte Heftchen mit
Tinte und Federkiel, sauber von Anfang bis zu Ende in klarer Handschrift abgeschrieben, aus deutschen Klassikern, Übersetzungen fremder Literatur, daneben aus allen Gebieten seines Studiums entnommen. Auf grobem,
bräunlichem Papier wirkten diese Aufzeichnungen stets anheimelnd auf mich. Ich hatte einige sogar im Egerer Bücherschrank aufgehoben. Unser Großvater hatte wie unser Papa nur Vorzugszeugnisse. Sein Studium beendete
er mit einem Diplom auf Pergament und dem Siegel der Prager Universität als Magister der Chirurgie. Von hoher Gestalt, 1,83 groß, soll unser Großvater ein stattlicher junger Mann gewesen sein. Das sagte dereinst der
Zincke-Großvater wörtlich: „Heute traf ich den Doktor auf der Straße, ein schöner Mann, der Lorenz“. Ich hatte als Kind stets großen Respekt, wenn unser Papa bei Erkrankungen seinen Vater zu Rate zog. Ich erinnere mich
an meinen Sonnenstich. Bei Bruder Arthurs Gastritis kam er mit dem lieben Zincke Großel zu gleicher Zeit angefahren. Meine Erinnerungen reichen an die Zeit, wo das Lorenz Großel leider schon nicht mehr bei ihren Lieben
war. Zu Geburtstagen oder bei Anlässen anderer Art besuchte ich mit meinem Papa den Parchener Großvater. Zumeist allein mit Mama, wenn wir in Parchen waren, versäumte sie es niemals, ihrem Schwiegervater einen Besuch
abzustatten. Mit einer gewissen Ehrfurcht betrat ich oft an Mamas Seite Großvaters Haus, wenn gewöhnlich in der Dämmerstunde nach dem Klopfen mit dem eisernen Klopfer die Köchin öffnete und wir in das hohe mit Teppich
belegte Zimmer eintraten. Der Großvater kam uns stets freundlich entgegen, schenkte zwei Gläser Rotwein ein und stellte einen Teller mit Zuckerzwieback daneben auf den Tisch, erkundigte sich, was Otto mache, ob er viel
Visiten habe und nachdem die liebe Mama einiges aus der Praxis usw. berichtet hatte, erzählte der Großvater von seinen Reisen, einmal lange von München und drückte den Wunsch aus, daß die liebe Mama es auch einmal
besuchen sollte. Oder er las Gedichte vor. Seine goldene Brille lag stets auf dem Thermometer. Die Zeitungen, wohl geordnet, Blatt auf Blatt am Recamier. Stolz war ich auf ihn, wenn er abends in der Schenke am runden
Tisch in der Mitte präsidierte. Ich erkannte die hervorragende Persönlichkeit und wie alle anderen Gäste von ihm abstachen. Großvaters schöner Albumvers, den er mir, als ich 14 Jahre zählte, in’s Stammbuch gedichtet
hat, soll nicht der Vergessenheit anheim fallen.
Adel in e igener Brust sei Dein Panier!
Strebe dem Höchsten nach auf Deinen Wegen, dann bist Du den Deinen und Dir eine Zier, bist, wo Du wandelst, dann allen ein Segen!
Unser Großvater war ein weit und breit berühmter Arzt, auch als Hausarzt bei einigen Steinschönauer Familien oblag er gewissenhaft seinem aus innerem Drange gewählten Beruf
ein Leben lang. Zu seiner letzten Lektüre gehörten Friedrich-von-Schillers Gedichte. Meine Großmutter Elisabeth Lorenz, geb. Palme, Tochter Schenkenbastels des Sebastian Palme und seiner Ehefrau Franziska Palmin
geboren 1796 wurde in der Parchenschenke geboren. Meine Kindheitserinnerung an sie reicht in jene glückliche Zeit zurück, als ich noch während eines Besuches aus Parchen im Kinderstühlchen am Familientische saß und das
Großel mir viereckige Malzzelteln über das Eck des Tisches zuschob, während sie am Sofa saß. Aus Erzählungen Papas wäre zu berichten, daß er als Erstgeborener mit einer ganz innigen Liebe an seiner guten Mutter hing.
Noch als sehr junges Mädchen bewarb sich zuerst der Steinschönauer Arzt Dr. Miksch um ihre Hand, der eines Tages im Zweispänner, in der Hand nach damaliger Sitte den Doktorstock mit goldenem Knauf, in der Parchenschenke
vorfuhr, um ernsthaft anzuhalten. Tief erschreckt floh die Tochter Elisabeth bis hinauf zum Taubenschlag. Ob sie schon zu jener Zeit den jungen Magister der Chirurgie Lorenz gekannt hat, ist mir unbekannt. Sebastian
Palme hatte zwei Töchter, Elisabeth und Franziska. Sein Ahnenbild betrachteten wir alle mit Liebe und Ehrfurcht. Er war ein gar stattlicher Mann, mit schönen regelmäßigen Gesichtszügen. Man sah es ihm an, daß er lange
Jahre in Spanien und Italien gelebt hatte. Nach dem Tode seines Bruders Franz kam er nach Parchen zurück, um das heimatliche Geschäft zu übernehmen. Er heiratete die verwitwete Frau seines Bruders, deren Ahnenbild neben
dem seinen im schwarzen Rahmen durch Jahre hindurch in Papas Zimmer hing und alljährlich mit Eichenlaub geschmückt wurde. Das war Papas gutes Großel, welches ihm immer ein Töpfchen Schokolade in der Röhre bereitstellte
und von ihm innig geliebt wurde. Zuletzt hingen diese teuren Bilder über unseren Betten in Wolfersdorf bis zur Aussiedlung. Von Schenkenbastel möchte ich noch berichten, daß er der Begründer der Parchener
Siderolith-Fabrik gewesen ist. Sein großer Reisewagen, mit welchem er aus Italien zurückgekommen war, stand durch Jahre hindurch im Schuppen, bis er eines Tages von zwei Pferden bespannt die Fahrt nach Prag mit den
jungen Eheleuten Karl und Elisabeth Lorenz angetreten hat. Es muß ein abenteuerliches Bild gewesen sein, als mein Papa im Alter von 8 Wochen samt seinem Kinderkorbe in Begleitung von Muhm Resel als kleiner Passagier
verladen wurde. Großvater wollte seiner jungen Gemahlin das Carolinum inmitten der historischen Musenstadt zeigen – Prag. Das war ein mutiges Unternehmen zu jener Zeit der schlechten Straßenverhältnisse. In Liboch wurde
übernachtet und zwar auf einem kleinen Tanzsaal. Der Kinderkorb als Schaukel mit zwei Stricken an der Decke befestigt. Er soll während der Nacht zumeist in Bewegung gewesen sein, nachdem das Bübchen ziemlich unruhig
gewesen, weshalb sich am nächsten Morgen andere Mitreisende über den kleinen Schreihals beklagten. Dessen ungeachtet wurde von jugendlicher Reiselust beseelt nach dem Frühstück die Reise munter fortgesetzt. Gegen den
Abend, als sich die Nebel auf die hunderttürmige Stadt senkten, fuhr die Parchener Reisegesellschaft durch die Tore von Prag. Während einer Besichtigung des Museums am Wenzelsplatz hätte ein großes Unglück passieren
können, welches ein Schutzengel wohl verhütete. Das Muhm Resel, welches mit dem kleinen Passagier im Arm auf der obersten Stufe der Museumsstiege sitzend von der weiten Reise und den unruhigen Nächten ermüdet war,
schlief den Schlaf der Gerechten, wie das Kind in ihren Armen, die sich im Traum gelöst hatten. So erschienen im Augenblick größter Gefahr die bestürzten Eltern und wendeten alles zum Guten. Das Lorenz Großel war ein
sehr ordnungsliebendes Menschenkind zum Unterschiede von ihrer jüngeren Schwester Franze. Elisabeths Kommoden waren stets peinlich aufgeräumt, während bei ihrer Schwester alles wirr durcheinander lag. Sie war eine
ausgezeichnete Hausfrau und besonders gute Köchin. Ein Lied, was sie oft gesungen hat, war: „Freut euch des Lebens, solange das Lämpchen glüht...“ von Johann Martin Usteri, 1763 bis 1827. Aus Tradition, während der
Großvater mit seinem Vater den Christbaum baute, besuchte sie trotz des Parchener Stöberwetters, wo hohe Windwehen die Straßen sperrten, die Christnacht. Da geschah es dereinst, als in dem kleinen Dorfkirchlein
ungezählte Wachsstockkerzlein brannten, daß sich plötzlich vom Kircheneingang her ein Rauschen erhob, was alle Betenden aufblicken ließ. Das gute Großel erkannte zu ihrem Schrecken meines Papas älteren Spielkameraden,
zugleich Hausdiener, den langen Hill Hannes, der angetan mit Schenkenbastels Reisemantel mit den sieben Kragen nach damaliger Mode aus hellgrauem Tuch, langsam und voll Selbstbewußtsein bis zur Speisebank schritt, wo er
sich umständlich niederkniete. Denn der viel zu große Reisemantel war ringsum voll Schnee und hart gefroren, daher erfüllte die stille Kirche ein merkwürdiges Rauschen. Niemand kannte das weitgereiste Kleidungsstück,
das dem Hill Hannes eh und je als Zudecke auf seinem Lager gedient hatte. Lorenz Großels Lebensweg, der so voll jugendlicher Reiselust begonnen, war ein leidvoller. Sie schenkte 12 Kindern das Leben. Davon umsäumten
8 kleine Engel ihre Bahn. Unvorstellbar, wieviel Tränen darüber geflossen sind. Mein Papa und das Großel, erhielten sich allen Gewalten zum Trotz, wie Goethe es so schön lehrt. Nur von einem kleinen Alfred, den der
böse Scharlach dahinraffte, sind geflügelte Worte erhalten, welche uns Kindern besonders lieb erschienen und welche ich hier aufschreiben will. Der Kleine sagte „Mimi“ zu seiner guten Mutter und es klingt ausnehmend
liebevoll, wenn er belehrend sprach: „Mimi, du immer stille sein mußt, du nicht reden mußt, Mimi“. Das war bei einer Meinungsverschiedenheit mit dem Großvater. Außerdem, wenn der Kleine unfolgsam gewesen und eingesperrt
war, in die Rumpelkammer: „Mimi, du mich immer in die Hunkakammer einsperren kannst, ich immer wieder auskumm“, versicherte er strahlend, was oft geschah. Später, zur Zeit als Papa Student war, reiste die Familie
alle Jahre während des Sommers nach Bodenbach, wo eine Stahlquelle geschmückt mit der steinernen Statue des Neptun im gepflegten Laubwald stand, anschließend daran ein Warmbad. Dort badete groß und klein in einem
ausgekachelten Bad mit Stufen, auf welchem die Kinder saßen. Unten floß die Elbe vorüber mit ihren Zillen, Kettendampfern und den weiß-grünen Salondampfern. Man erblickte das schöne Schloß des Grafen Thun, wo die Fahne
wehte, wenn der Herr Graf daheim war. Überall im Walde nahmen Kurgäste aus Prag Quartier, sogar Engländer. So erlebten auch wir mit unseren guten Eltern Lorenz Großels Badereise nach Bodenbach. Eingedenk jener Zeiten,
wo unser Papa seine Morgenstunden, in den Werken unserer deutschen Dichter lesend, am Spitzhüttl verbrachte.
Folgende Verse verfaßte unser Papa wohl in einer der schwersten Stunden seines Lebens:
An meine Mutter †
O Mutter, O Mutter Du bist mir entflohn,
seh’ ich Dich denn nimmermehr wieder? Und hörst Du nicht klagen, nicht rufen den Sohn: „Geliebteste komme doch wieder!“
Soll ich Dein Auge nie wieder mehr seh’n, hast Du mich denn ewig verlassen? soll ich denn voll Trauer und Schmerzen vergeh’n,
unmöglich, ich kann es nicht fassen.
O furchtbarstes Schicksal, o grausamste Zeit, Erbarmen schreit’s, Mächte Erbarmen!
Das wärmste der Herzen so reich und so weit vorüber, hinüber, Erbarmen!
O Sternlein des Lebens wie trübe du blickst, ein Vorhang rollt dunkel hernieder,
im Sturme am Steuer - mein Schifflein du sinkst! Horch, hörst Du's, noch einmal! „Nie wieder.“ |
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6. Kapitel
Die Zincke Großeltern
Erinnerungsblätter zum Andenken an die lieben Zincke-Großeltern Sebastian und Maria Josepha Zincke geborene Kreibich.
Zuerst möchte ich von Mamas alten Zinckgroßel einiges berichten, wie es in der guten alten Zeit zugegangen ist. Das alte Zinckgroßel, welches ich nur unter diesem Namen
traumhaft gekannt, nachdem kein Bild von ihr existierte, heiratete ihren Gemahl, wie es damals in der Heimat des Glases geschah, nachdem er seine Stellung im fernen Italien angenommen hatte. Kurze Zeit nach der Hochzeit
wurde Abschied gefeiert, man hoffte auf baldiges Wiedersehen. Regelmäßig kam Geld für den Unterhalt der jungen Frau, die Mutter eines Bübchens geworden war. Der Vater blieb aus, während der kleine Sohn sich auf seine
Heimkehr freute und sich im Geiste den Entfernten, als jungen, hübschen Mann vorstellte. Endlich nach sieben langen Jahren kündete ein Schreiben die bevorstehende Ankunft des ersehnten Vaters an. Wie sehr erschrak
jedoch damals der kleine Bastel, als ein alter Herr mit weißem Haar dem angekommenen Wagen entstieg. Zwei kleine Schwestern wurden noch in rascher Reihenfolge geboren. Das Weitere entzieht sich meinem Wissen. Ich
weiß auch nicht ob mein Großvater die Glasschleiferei oder das Gravieren erlernte, nur, daß er sich unsterblich in die Maria Josepha verliebte, deren kleiner Bruder Benedikt, genannt das Benedixel in der Herrnhauspfütze
mit 8 Jahren ertrunken ist. Sein Bild in Öl gemalt, hing in einer Kammer bei der Muhm Toni. Von dem alten Zinckgroßel wurde erzählt: Mit 80 Jahren ließ sie sich einen neuen vornehmen Pelz nähen, über welches Vorhaben
ihre Umgebung die Köpfe schüttelte. Es hat sich gelohnt, denn sie hat sich noch 11 Jahre während der sibirischen Winter in Parchen darin erwärmt. Ich glaube, daß sie eine Kirchenbesucherin war, denn es war nichts
Seltenes, wenn der Zincke-Großvater mitten in der Nacht geweckt wurde, mit der Nachricht, die Große wird versehen. Einige Male soll er schnell zu ihr gelaufen sein, aber später schickte er sein Marseffel. Erst am
anderen Tage fragte er, was gewesen. Da hieß es als alle beisammen waren, wurden alte Mare erzählt. Auch die Maria Josepha entstammte einer Glasfirma. Ihr Vater Kreibich wanderte zur damaligen Zeit 24 mal zu Fuß mit
einem roten Samtranzel von Parchen nach Amsterdam, während das Glas per Achse mit Frächtern im Kunstlaternenschein versandt wurde. Gleichzeitig mit dem Großvater bewarb sich ein Steinschönauer Handelsherr namens
Schimmel um unser Großel, welchem sie den Vorzug gab und der sie mit 20 Jahren zum Altar führte. Jener Tag gehörte wohl zu den schmerzlichsten im Leben unseres guten ZinckeGroßvaters, denn als die Brautglocke des
Parchener Dorfkirchleins für Maria Josepha, der seine große Liebe gehörte, geläutet wurde, schlich er sich hinauf bis in den Boden, wo er bitterlich weinte. Ein Unstern schien über dieser Eheschließung zu walten. Es
wurde öfters erzählt, daß nach Jahr und Tag, während unser Großvater einmal durch den Scheiberwald ging, der Heidaer Arzt Dr. Strauß seinen Wagen anhielt, und dem ahnungslosen Fußgänger sagte, Herr Zincke, Schimmel wird
nicht mehr besser, das Marseffel wird wieder frei. So geschah es auch. Da Zinckgroßels Mutter, so wie ihre einzige Schwester, welche reich verheiratet gewesen, schon früh verstorben waren, kniete die junge Frau bereits
mit 21 Jahren kurz vor ihrer Niederkunft, mutterseelenallein am Sarge des Franz Schimmel. Der Vater war auf einer Geschäftsreise in Holland. Der kleine Franz soll ein sehr schwaches Kind gewesen sein, welchem Charpie
(gerupftes Leinen) in die dünnen Händchen gelegt wurde, auf daß die kleinen Fingernägel sie nicht wund scheuerten. Der Kreibich Vater schickte das Reisegeld aus Holland mit dem Bemerken, sein verwitwetes Töchterlein
möge sofort nach Amsterdam kommen, sobald das Kind nicht mehr am Leben sein wird. Wie so oft kam es auch diesmal ganz anders als vorgesehen. Eines Sonntags wunderte sich das Großel wieso Zinckebastl einige Male am
Hause draußen vorüber ging. Sie wohnte im unteren Parchen. Als sie später das Kind in der Wanne badete, ging die Tür auf und herein kam ihr ehemaliger Verehrer, der sich ein Herz gefaßt hatte. Darauf sollen beide
geweint haben. Er nahm sie in seine Arme und küßte ihre Tränen. Nach dem Trauerjahr Hochzeit. Sie verließ sodann das väterliche Haus und zog zu ihm. Jedoch nicht auf lange, denn ihr Kind blieb ein Stein des Anstoßes,
besonders bei den beiden Schwägerinnen. So zogen sie bald wieder in das väterliche Anwesen nach Niederparchen. Es war eine glänzende Zeit für das in der ganzen Welt bekannte und beliebte böhmische Glas. Der Großvater
beschäftigte immer mehr Leute mit dem Schleifen von Kristallglas zu Prismen, die mit Silberdraht zu prächtigen Lustern hergestellt wurden, Kirchen, Schlösser und Tanzsäle schmückten und in alle Welt hinaus gingen.
Das Zinckgroßel war eine ernste Frau, ausgezeichnete Kopfrechnerin, sie wurde bei Geschäftsabschlüssen stets in das neben der großen Arbeitsstube gelegene Comptoir gebeten, wenn der Großvater das ganze Jahr hinter
seinem Schreibtisch saß. In der Regel rechnete sie im Kopfe schneller als die anderen mit der Feder. Ansonsten beaufsichtigte sie von früh bis abends das Aneinanderreihen der Prismen, was mit einer kleinen Zwickzange
geschah. Ihr Stuhl am Arbeitstisch blieb niemals leer. So war der ganze Haushalt, wo acht kräftige Kinder hintereinander geboren wurden, ganz auf Soll und Haben eingestellt. Die Großeltern hatten das schönste Wohnhaus
im Dorfe, nahe der Kirche erworben. Dazu gehörte ein Kartoffelacker und zwei Gärten mit Nußbäumen auch ein kleines Häuschen vis-á-vis, wohin die Kinderschar abgesetzt wurde, wenn große Aufträge im Geschäft rasch
auszuführen waren. Das Jahr 1848 rief beide Großväter unter die Fahnen. Während des Bruderkrieges im Jahre 1866 wurden klingende Münze, Silberbestecke, sogar die Ohrgehänge und Mamas Kinderringel vor den Preußen in
einen Topf getan und im Garten verscharrt. Es war aber nicht nötig gewesen. Die liebe Mama erzählte gern davon, wie in Parchen auf allen Tanzereien der Schlager mit Begeisterung gesungen wurde: „Komme doch, komme doch
Prinz von Preußen“. Die deutschen Soldaten zahlten alles mit klingender Münze. Nach dem Bruderkriege kamen wieder ruhigere Jahre. Ein Italiener namens Bianchi kochte während des Winters ab und zu. Da wurden die
Honoratioren zu Spezialgerichten eingeladen. Sogar Bier soll er gebraut haben. Der Zincke Großvater zeichnete sich bei solchen Festessen stets durch seine gewinnende Liebenswürdigkeit aus. Es soll eine Gemütlichkeit von
ihm ausgegangen sein, so daß jeder sein Erscheinen begrüßte. Während des Sommers wurden die obligaten Wallfahrten nach Politz, Kamnitz und Neuschloß unternommen. An letzteren Orten bei den 14 Nothelfern gab es extra
kulinarische Genüsse. Zwei gebratene Enten wurden stets vorher bestellt. Erst in späteren Jahren, als die liebe Mama schon ein Backfischchen war, schalteten sich über ärztlichen Rat alljährige Badereisen nach Teplitz
ein, wo die Familie, welche schon klein geworden, im Ordensband Quartier nahm. Ich konnte später von Bilin aus jenes Kurhaus nicht mehr finden. Es war umgebaut und umbenannt worden. Nur die Konditorei Müller war noch am
selben Platze vis-á-vis des Schlangenbades. Für meine liebe Mama war die alte Badestadt im Andenken an ihre Eltern mit einem Glorienschein umgeben, der sich auch auf mich übertragen hatte. Das liebe Zinckgroßel
unternahm in vorgerückten Jahren keine Reisen mehr. Sie half stets in den Familien ihrer Kinder aus wo ihre Hilfe nötig war. Viel Sorgen machte ihr der erstgeborene Franz. Ihren ständigen Wohnsitz hatte sie später bei
der guten Muhm Toni, wo sie mit großer Liebe umgeben war. Für mich war ihre Anwesenheit bei uns eines der höchsten Glücksgefühle als Kind.
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7. Kapitel
Rinka Lang Ich füge meinem Buche ein Erinnerungsblatt für Tante Rinka ein. Alle, die sie kannten, liebten sie. Tante Rinka war ein reichliches Jahr jünger als ihr Bruder Karl. Sie war
ein sehr gesundes lustiges kleines Mädchen. Nur hatte ihr, wie mir erzählt wurde, eine böse Fee einen Trotzkopf neben vielen edlen Eigenschaften in die Wiege gelegt. Wenn sie sich über etwas erzürnte, fiel sie einfach
zu Boden und strampelte mit Händen und Füßen. Das wollte der Lehrer als Vater ausrotten und verhaute einst den kleinen Trotzkopf, der dann heulend und schreiend durch alle Zimmer rief: „Mein Potterle, mein Potterle“.
Angeblich hat sie zwei Jahre nicht mehr mit ihrem Vater gesprochen. „In Treue fest“, schien als junges Mädchen ihr Wahlspruch zu sein. Nachdem die Pfade ihres Herzens in ein unerbittliches Schicksal gekommen, war
niemand mehr imstande einen Bund fürs Leben mit ihr zu schließen. Ihr Herz blieb einsam und traurig. Dabei war sie von edelster Denkungsart, vor allem deutsch bis ins Mark, ehrlich noch und noch. Vielleicht war es eine
Folge ihrer Kurzsichtigkeit, daß sie den Frühling, die Blumen und Landschaften am liebsten aus Büchern kennenlernte. Sie hat unheimlich viel gelesen und zwar so leidenschaftlich, daß sie über einem schönen Buche die
Umwelt vergessen konnte. Sie hatte nach der Bürgerschule das Pädagogium in Prag studiert und ihre Lehrbefähigungsprüfung in Leitmeritz abgelegt. Als Lehrerin war sie in Gabel, Pankratz, Maffersdorf bei Reichenberg und
viele Jahre in Bodenbach tätig, von wo sie an vielen Sonntagen übers Jahr zu uns nach Kamnitz auf Besuch kam. Stets ein lieber, sehr gern gesehener Gast. Auch nach Bilin kam sie noch. Sie trug stets elegante Kleider und
Hüte, was ihr Hobby war, wie man heutzutage sagt.
Ich füge einige spaßige Verse ein, von ihrem Bruder, der gerne neckte, gedichtet, oft von Adelchen deklamiert.
In Bodenbach, Bilin und Gabel ist es bekannt und keine Fabel, daß Tante Rinka ziehet aus
und siedelt in ein neues Haus.
Sie packt schon Monate vorher und's Herze ist ihr zentnerschwer. Daß ihr’s nur alle sicher wißt,
am ersten März der Umzug ist.
Es ist bestimmt und stehet fest, ich bleibe nicht im alten Nest. Und als der März herangekommen,
da fragen alle angstbeklommen:
Wie wird’s nur Tante Rinka gehn? Da kommt ein Brief, drin wird es stehn. Ei, sehet schwarz auf weiß geschrieben,
sie ist im alten Nest geblieben.
So ging es jahrelang hin und her, bis wir in Bilin unsere Zelte abbrachen und mit Kind
und Kegel nach Eger übersiedelten. Tante Rinka ging zu jener Zeit in Pension und übersiedelte über Einladung ihres Bruders samt Mutter und Onkel ins Egerland, wo sie am oberen Markte eine schöne Wohnung mit Aussicht auf
den Marktplatz bezog.
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8. Kapitel
Karl Theodor Lang Erinnerungsblätter dem Andenken an Karl Theodor Lang gewidmet.
Er
entstammte einer Egerländer Bauernfamilie. Sein Vater erlag in jungen Jahren einer Lungenentzündung, die er sich auf dem Heimwege vom Viehmarkt, wo er Ochsen verkauft hatte, und von sogenannten Weißkäufern verfolgt
wurde, durch starkes Erhitzen zugezogen hatte. Das war ein großes Unglück für die Familie, welche aus drei Söhnen und einer Tochter bestand. Der kleine Karl als Ältester lernte frühzeitig den Ernst des Lebens
kennen. Seine Jugend, der Peter Roseggers vergleichbar, verbrachte er zum Teil als Hüterbub mit dem lieben Vieh aus dem heimatlichen Stalle. Zumeist trug er ein Buch bei sich, worin er eifrig las; er las alles, was ihm
in die Hände kam. Des öfteren soll es vorgekommen sein, daß seine Kühe auf anderer Weide fraßen, wenn er sich allzusehr in die Buchseiten vertieft hatte, was Verdruß bei den Nachbarsleuten auslöste. In der Schule war er
dafür stets der Beste, weshalb ihm sein Lehrer recht oft seinen Kathedersitz überließ, was in ihm den heißen Wunsch erweckte, ein Lehrer zu werden. Dabei lernte er spielend zu musizieren, so daß er schon als Junge im
kleinen Orchester bei Tanzmusiken aufspielte, jedes Instrument das gerade gebraucht wurde. Seine Mutter daheim ohne Gatten tat sich schwer auf dem Hofe, der immer mehr den Gläubigern verfiel. Da eines Tages, als
bei Karl sein Entschluß Lehrer zu werden unerschütterlich feststand, ließ er sich sein Erbe auszahlen und wanderte mit seinen geringen Habseligkeiten bis nach Leitmeritz an der Elbe, wo er das Pädagogium besuchte. Er
soll es mit glänzendem Erfolge absolviert haben, weshalb er noch zwei Jahre in Prag Technik studierte, seinen Unterhalt durch Stundengeben erwarb und sogar noch seinem jüngeren Bruder Johann, die Realschule in Prag
ermöglichte. Endlich wandte er sich wieder dem Lehrfach zu und nahm eine Anstellung als Lehrer in einer Privatschule an, wo auch seine Karoline als Lehrerin tätig war. Während er jahrelang bei Prominenten, auch adeligen
Familien in Prag Hofmeister war, erwarb sich der tüchtige Hauslehrer großes Ansehen. Er eignete sich dabei die gesellschaftlichen Formen der Prager Honoratioren an, welche ihm, als seine Zöglinge der Schule entwachsen
waren, wertvolle Andenken als Anerkennung überreichten. Dazu gehörten, ein Bücherschränkchen in Biedermeierstil und ein wertvolles Barockspieltischchen, das die Namenszüge KL trug. Auf Hochglanz poliert mit wertvoller
Einlegearbeit verziert, innen mit Spiegeln ausgestattet, war es ein Leben lang das Schmuckstück im Salon der Familie. Es scheint keine Liebe auf den ersten Blick gewesen zu sein, sondern eine tiefe innere Neigung,
welche zwischen den Gabler Großeltern heranwuchs, so recht nach Schiller: „Drum prüfe wer sich ewig bindet ...“ Während eines Ausfluges in die Umgebung von Prag, vom Lehrkörper der Schule unternommen, nahm der junge
Lehrer Lang Anlauf um, wie er sagte, von einem Felsen herab zu springen. Mit einem lauten Angstschrei verriet die Kollegin ihre Gefühle. Das war der Anlaß zu einer glücklichen Verlobung nach zwei Jahren täglichen
Beisammenseins in der gemeinsamen Erziehungsanstalt. Die Kollegin Karoline Schefzik entstammte einer Prager Juristenfamilie. Der Vater Notariatssubstitut, erhielt seine Bestallung zum Notar knapp vor seinem frühen
Heimgange. Seine Tochter Karoline legte alle Prüfungen mit Auszeichnung bei den Ursulinerinnen ab, welche ihre Lehrerinnen-Bildungsanstalt in Prag auf der Ferdinandstraße hatten. Sie verlor ihren Vater im Alter von 16
Jahren. Die Jüngere Schwester Genoveva bildete sich als Handarbeitslehrerin aus, während die Jüngste den praktischen Arzt Dr. Josef Palla heiratete. Ein Bruder namens Adolf war Steuereinnehmer und mit einer Saazer
Weingroßhändlerstochter verheiratet. Der Bruder Hans war bei der großen Prager Baufirma Launer angestellt. Nachdem sich die Institutsinhaberin in den Ruhestand begeben hatte, übernahm das Lehrerehepaar Lang die
Privatschule zu denkbar ungünstigen Bedingungen, denn das Rechnen mit dem Bleistift in der Hand war des weltfremden Neuvermählten Sache nicht, dessen weites Herz mit dem Verstande nicht im gleichen Schritt ging. Der
Vorgängerin wurde großzügig ein viel zu hohes Pachtgeld überwiesen, Lehrkräfte aus Professorenkreisen angestellt, so daß bald die Ausgaben die Einnahmen überstiegen. Kurz und gut, auf Drängen der jungen Nachfolgerin
Karoline Lang wurde das ungleiche Pachtverhältnis gelöst und eine Lehrerstelle in Niemes angestrebt mit einem fixen Gehalt. Nebenbei errichtete die tüchtige Gattin einen Lehrkurs für höhere Töchter, wo Handarbeiten
gelehrt und Anstandslehre privat in der Wohnung erteilt wurde. Dadurch konnte ein Dienstmädchen für die häuslichen Arbeiten gehalten werden und die Prager Lehrersleute hatten dadurch sogleich ein ehrbares Ansehen. Bei
einer Lehrerzusammenkunft, an welcher sich der Landesschulinspektor beteiligte, hielt der neue Lehrer ein Referat über die Einführung von Bürgerschulen im Bezirk Niemes. Er fand großen Beifall bei dem Herrn
Landesschulinspektor, der sich nach dem Namen erkundigte und die Antwort erhielt, wir alle nennen ihn Vater Lang. Als am Schlusse die Versammelten an langer Tafel beisammen saßen, klopfte dem Großvater im Vorübergehen
jemand leise auf die Schulter, indem er sagte: „Vater Lang, sie werden von mir hören“. Es war kein anderer als der Landesschulinspektor. Bald darauf kam die Ernennung zum Bezirksschulinspektor nach Gabel. Seine tüchtige
kleine Frau Karoline übernahm die öffentliche Töchterschule als Lehrerin. So ging es weiter von Erfolg zu Erfolg, dabei ein Übermaß von Arbeitsleistungen. Der Lang-Großvater wurde Bürgerschuldirektor in Gabel, sodann
auch Bezirksschulinspektor in Leipa, was eine Übersiedlung nach Leipa zur Folge hatte. Papa erzählte, daß der zweispännige Landauer von Flickschuh fast das ganze Frühjahr bis zu den Sommerferien im Dienste der
Inspektionsreisen für beide Bezirke täglich gemietet war und daß die Familie ab und zu dem heimkehrenden Vater auf den Landstraßen entgegen ging. Der Großvater Lang war ein gar stattlicher Herr, groß und von starkem
Knochenbau als ein getreuer Sohn des Egerlandes, kerndeutsch. Allenthalben beteiligte er sich mit Kappe und Schurz bei den Veranstaltungen der Egerländer Gmoi. Zu seinem jüngeren Bruder Johann stand er stets in rührend
gutem brüderlichen Verhältnis. Sie sprachen, wenn sie allein waren, in Egerländer Mundart zusammen. Großmutter Karoline war das Musterbeispiel einer Gattin, Mutter und Hausfrau. Von kleiner, zierlicher Gestalt reckte
sie sich immer um ein Stückchen länger, wenn sie an ihres Gatten Seite Arm in Arm einherschritt. So erzählte es Onkel Johann. Sie blieb auch während der Jahre in den Landstädten immer Pragerin von guten Umgangsformen.
Im ehelichen Zusammenleben achtete sie streng auf das Zünglein an der Waage. Es ging daher niemals einen Schritt vom Wege, immer war Geld da ohne schäbig zu sein. Im Kreise ihrer Kaffeevisiten spielte sie eine wichtige
Rolle, von allen gern gesehen. Besonders wichtig nahm sie es mit dem roten Kreuz, wo sie dereinst der Kaiser angesprochen hatte. Als ehemalige Klosterschülerin besuchte sie jeden Sonntag eine Kirche. Dabei war es ihr
gleich, ob diese katholisch oder evangelisch war. Dabei war sie unerschütterlich im Glauben an die heilige Maria.
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9. Kapitel
Onkel Arnold Aus Jugendtagen vom Brüderlein Onkel Arnold, verehrt, geliebt und bewundert von mir, meinen Kindern und Enkelkindern.
Arnold Lorenz wurde nach mir im Doktorhause Nr.
177 zu Wolfersdorf am 16. Dezember im Jahre 1879 ein gesunder, strammer Junge, dessen breite Schultern bei seiner Geburt kleine Schwierigkeiten verursachten, als Stammhalter geboren. Ansonsten ging alles glatt. Mutter
und Sohn waren munter und wohlauf, weshalb meine liebe Mama ihn oft ihren kleinen Gesundmacher nannte. Wiederum war unser gutes Zinckgroßel zugegen. Sie nähte für das Bübchen, auf dessen Kopf die vorhandenen weißen
Kinderhäubchen am Hinterkopfe tanzten, eine hellblaue, mit Watte gefütterte Seidenhaube größeren Ausmaßes, welche sich in späteren Tagen segensreich auswirkte. Es geschah eines Tages, daß der kleine Noldl während er auf
dem Sofa zwischen Großel und Mama liegend aufgepackt, eifrig mit den Beinchen strampelnd, während die beiden miteinander sprachen, plötzlich auf den Fußboden gefallen war. Dank der gefütterten Seidenhaube hatte ihm der
Fall nicht geschadet. Meine ersten Erinnerungen an das Brüderlein gehen bis zu jener Zeit zurück, als wir beide ganz gleiche Kleider trugen, auch damals während der neu angekommene, kleine Junge auf den Namen Arthur
Camill getauft wurde. Es war eine Haustaufe. Arnold und ich knieten, von der Soben Anna betreut, auf den Platten des Zimmerofens nebeneinander und interessierten uns sehr, wie der Pfarrer Hieke die Taufe vornahm.
Nachher gab er uns beiden einen Kuß, was auf mich einen großen Eindruck machte. Später wurde erzählt, daß der geistliche Herr ziemlich angeheitert war, denn es war spät am Nachmittag. Das Lorenz Großel pflegte zu
sagen: „Nach dem Baden und Besuchen werden die Kinder krank.“ So scheint es nach einem Besuche aus Parchen geschehen zu sein, wo der wilde Vetter Paul mit dem zarteren und jüngeren Arnold derart im Wildgarten
herumgerannt war, bis beide total erhitzt zum Abendessen hereinkamen. Eine schwere Rippenfellentzündung war die Folge für Arnold, der einen Leinenanzug getragen hatte. „O schwere Zeit!“ In seinen Delirien sah er böse
Gesichter. Das Fieber kam täglich und nachher verlangte der kleine Tierfreund nach seinem Hühnel, welches die gute Mama ihm, die Augen oft voll Tränen, ins Bett brachte. Es war ein jämmerliches kleines Tier, das in
einem Bauer in der Küche eingesperrt vegetierte, kaum daß es Federn hatte. Es krepierte sobald Arnold gesund war. Er war und blieb ein großer Tierfreund. Von klein auf hatte er ein gutes Talent zum Zeichnen und
Malen. Es war uns Kindern erlaubt, die Blumen in den Gärtnerkatalogen, welche alljährlich nach Neujahr aus Erfurt kamen und die Bilder der „Gartenlauben“ zu bemalen. Ein neues Farbenkastel gehörte somit stets zu den
Weihnachtsgeschenken oder wenn eine Erkrankung Bettruhe erforderte. Arnold malte da stets den Frühling. Ich sehe sie noch vor mir, die ersten Lenzsträuße mit den Weidenkätzchen, Schlüsselblumen und Schneeglöckchen,
während ich Schnee, Eis und Pferdeschlitten im Walde malte. Eines Tages in der Vorweihnachtszeit, während ich als Älteste bereits in Nikolausens Werkstatt Zutritt hatte und damit beschäftigt war, Nüsse zu vergolden,
geschah es, während der Ordination, daß einmal vergessen wurde, die Oberstubentür abzusperren. Papa kam ab und zu aus der Apotheke herüber, um nach mir zu sehen. Auf leichten Sohlen war der kleine Arnold die Treppe
herauf gehuscht. Er hatte vor, eine „Gartenlaube“ zu holen und stand plötzlich wie aus dem Boden gewachsen mit erschrockenen Augen auf der Türschwelle. „Jessus Maria der Christbaum“, rief er entgeistert aus. Mitten in
der Stube stand der noch ungeschmückte Tannenbaum, frisch aus dem Walde gebracht. In diesem Augenblick erschien auch der betroffene Papa, welcher einen Moment den Schlüssel nicht abgezogen hatte. „Was willst du denn?“,
fragte er den entsetzten Jungen, „Eine Gartenlaube“, kam es mit weinerlicher Stimme heraus. Ärgerlich darauf der Papa: „Jetzt kannst du gleich mithelfen“. Ein Sturm brach über die gläubige Kinderseele herein. Arnold
legte sich auf seine beiden Arme am Klavier und schrie und weinte herzzerreißend. „Es gibt kein Christkindel“, schluchzte er laut. Als ihn darauf Papa trösten wollte, klagte er immer wieder: „Weshalb habt ihr es mir
denn gesagt, ich hätte es doch wieder geglaubt“. So endete sein schönster Kindheitstraum. Der gute Papa war traurig darüber. Das Märchen vom himmlischen Kind kann niemand ersetzen! Der kleine Arnold hatte wie sein
Papa große Augen und sehr helles, weißblondes Haar. Einmal in Parchen bei Tante Adele, als wir Kinder zusammen Personenraten spielten, und der kleine Vetter Max sich Arnold gedacht hatte, beantwortete er die Frage nach
dem Kopfhaar unsicher, immer wieder Arnold musternd mit folgender Auskunft: „weiß, blond, silbernes“. Meine jüngeren Brüder wuchsen als gute Spielkammeraden heran, mir scheint als wären die beiden unzertrennlich
gewesen. Für Arnold war im Garten kein Baum zu hoch. Er kletterte bis auf den höchsten Wipfel der Ulmen im Wildgarten hinauf. Pflaumen, Birnen, Kirschen holte er seinem jüngeren Bruder herunter, der gemächlich unter den
Bäumen saß und lachte, wenn Arnold lustige Schwänke erzählte. Einstmals ließen sie Hühner vom Taubenschlage herunterfliegen und freuten sich königlich, als beim Abendessen Papa einmal verwundert sagte, er hätte nicht
gedacht, daß Hühner so hoch fliegen können. Arnold war von klein auf der Feschere. Es ärgerte ihn daher, wenn von Zeit zu Zeit der Eisertschneider kam, um den Jungens Maß für Schulhosen zu nehmen, die aus Papas alten
Kleidern angefertigt wurden. Beide lernten Geige bei dem Kapellmeister in Wolfersdorf. Albertmusikant schrieb sich der Mann, welcher auch alle Blasinstrumente beherrschte. Klavierunterricht erhielt Arnold beim
Oberlehrer Kunert. Sein ausgezeichnetes musikalisches Gehör begleitete ihn durchs Leben. Daher wohl auch der poetische Sinn, welcher ihn besonders in jungen Tagen zum Dichten drängte. In meinem Tuskulum in Eger hatte
ich etliche zumeist melancholisch angehauchte Gedichte bis zum Abschied getreulich aufgehoben. Nach dem Besuch der Mittelschule trat Arnold in die Prager Kunstgewerbeschule ein, wo er, nach einer für angehende Künstler
gedachten Aufnahmeprüfung, aufgenommen wurde. Papa strebte nebenbei eine aussichtsreiche praktische Ausbildung für den zum Modellieren hochbegabten Jüngling an. Bei Bernhard in Prag und nach Absolvierung der
zahntechnischen Schule zu Dresden war Arnold imstande, einer Dentistenstelle in Pirna vorzustehen. Arthur Drescher sah seinen Famulus nach Jahren ungern nach Reichenberg abgehen, wo er 7 Jahre trüb und klar von bestem
Erfolg gekrönt, eine Assistentenstelle bei dem ersten Zahnarzt Dr. Pilz inne hatte und außerdem in freundschaftlichem Verhältnis zu seinem Chef stand. Das war die Zeit, als der elegant gekleidete Onkel Arnold als
Gentleman die Feste des Jahres verschönte, denn wenn der gute Onkel Arnold seine Hände über die Tasten des Klaviers gleiten ließ, begannen erst die Feiertage in Wolfersdorf, wo der Streuselkuchen auf dem Piano lag und
das Zickel im Gewölbe an der Decke hing. Nicht zu vergessen die Plischka-Torten zum Gründonnerstag aus Reichenberg. Was wäre Weihnachten in Bilin mit den guten Eltern ohne Onkel Arnold gewesen? Was die Promotionen
meiner Kinder? Als er dann glücklich die Rechte unter den Töchtern des Landes gewählt hatte, feierten wir mit ihm die schönste Familienhochzeit in Aicha mit Nintschi, der Tochter von Dr. Eduard Rohm.
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10. Kapitel
Arthur Lorenz Es fällt mir nicht leicht von einem Lebensfrühling zu erzählen, dem kein Sommer folgte. Das war unser Arthur, der Liebling aller, geliebt, beweint und unvergessen.
Als fünftes Kind meiner Eltern wurde abermals ein Junge geboren, dessen Ankunft mit ganz besonderer Freude deshalb begrüßt wurde, nachdem ordnungsgemäß ein Mädchen erwartet worden war. Die Geburt ging ohne Zwischenfall
am 13. Juli des Jahres 1881 vonstatten. Der kleine Ankömmling wurde auf die Namen Arthur Camill getauft. Taufpaten waren Onkel Emil, Mamas Bruder und Papas Freunde Oberlehrer Knie, Ulbrich und Rhomberg, außerdem die
Frau eines befreundeten Pomologen Frau Pompe und Frau Langer aus dem Niederdorfe. Die Tauffeierlichkeit mit anschließendem Festmahl hatte sich bis in vorgerückte Stunde hinausgezogen. Die liebe Mama erzählte später
davon, daß die Freunde am Schluß des Festes ihre Mütter beweinten. Ob die elegische Stimmung in Folge der edlen Musik, welche Freund Knie vortrefflich meisterte, so daß sein Klavierspiel immer das ganze Haus erfüllte,
oder mag der gute Rebensaft schuld gewesen sein? Jedenfalls war die liebe Mama herzlich froh, als die Feier ihren Ausklang hatte und sie den ersehnten Schlaf finden konnte. Der kleine Arthur, wohl auf den Namen von
Papas Anatomieprofessor getauft, war ein gar liebes Geschwister mit einem lockigen Kinderköpfchen. Bevor das Schwesterlein geboren wurde, fragte man ihn eines Tages, was er wohl dazu sagen würde, wenn der Klapperstorch
ihm ein kleines Brüderlein brächte? Antwort: „Den Klapperstorch möchte ich mir behalten und das Brüderlein zum Fenster hinauswerfen“. Ich erinnere mich, daß der kleine Junge im Garten zur Frühjahrs- und Herbstzeit ein
graues Mäntelchen trug. Darin sah er zumeist Papa bei der Gartenarbeit zu. Auch er war, wie sein Bruder Arnold ein großer Tierfreund. Sie sahen zusammen Schuberts Naturgeschichte der Säugetiere an und das Vogelbuch,
welches mir gehörte. Nach der schwer überstandenen Wochenkrankheit bei Mariechens Geburt hatte die liebe Mama das Gelübde getan, eine Wallfahrt auf den heiligen Berg bei Pribram zu machen. Arthur sollte wie klein
Mariechen inzwischen Großels Obhut anvertraut werden, während Arnold und ich bereits als Reisebegleiter ausersehen waren. Im letzten Augenblick erklärte jedoch Papa: „Den Jungen nehme ich mir mit“. Und so ging es über
Prag in die entfernte Silberbergwerksstadt Pribram, wo sich eine Bergakademie befand. Wir stiegen am Markt im „Kaiser von Österreich“ ab, damals ein deutsches Hotel, von dessen Fenstern man den heiligen Berg mit seiner
Wallfahrtskirche sehen konnte. Der Aufstieg zum heiligen Berg war ein beschwerlicher. Es führten den ganzen Berg hinauf, steile, mit Holzbrettern überdachte Stiegen und ich sehe noch deutlich wie der gute Papa unentwegt
seinen Kleinen, mit Kosenamen Purzel oder auch Stropel benannt, auf starken Armen hinan trug. Der Altar in der Wallfahrtskirche war aus purem Silber, worauf uns Papa aufmerksam machte. Zum ersten Mal im Leben hörte ich
damals tschechisch sprechen. An diese Reise schlossen sich bald andere nach Bodenbach und Dresden an. Besonders war es der zoologische Garten, welcher auf das kindliche Gemüt einen gewaltigen Eindruck machte. Eines
Tages schickte unsere gute Muhm Toni ein kleines Ziegenböcklein nach Wolfersdorf. Die Freude der Brüder war sehr groß, als es aus dem Tragkorb der Botin hervor kam und mitten in unserer Stube stand. Es wurde von Arthur
gehütet und später in ein kleines Leiterwagel eingespannt. Arnold hatte vorher ein Lammel besessen. Auch Joli der Neufundländer wurde als Arthurs Liebling respektiert. Sie rodelten im Winter zusammen, der kleine Junge
und der große Joli. Während der Weihnachtszeit ließ sich Arthur im Gegensatz zu Arnold seine Illusion durchaus nicht zerstören. Er blieb getreulich bei der kleinen Rieche unten im Zimmer, obgleich er es schon
merkte, wenn oben eine Nuß herunter fiel oder Tannengeruch durchs Vorhaus zog. Als Schuljunge noch sehr klein, hatte er ein Schachspiel und spielte eifrig mit Mariechen, später täglich mit der lieben Mama. Sein
Tischl war immer aufgeräumt. Er hielt sehr auf seine Spielsachen. In seinen Hosentaschen waren stets eine Menge Strickeln und immer ein Stück gewöhnlicher Zucker. Er war ein großer Kinderfreund. Nur wenn Mariechen oft 7
bis 8 Freundinnen im Garten hatte, setzte er ihren Spielen einen Termin, indem er sagte: „Binnen 10 Minuten muß der Wildgarten geräumt sein“, was auch regelmäßig geschehen ist. Die Brüder waren unzertrennlich. Sie
hatten wohl daher keine weiteren Kameraden. Gern stapften sie nach mir den Berg zum Krausenbauer hinauf. Wenn die Anna und ich sie kommen sahen, versteckten wir uns oben auf dem Boden, wo das Getreide lag und das Werg
zum Spinnen aufgehängt war. Die gute Bäuerin verriet unser Versteck. Es blieb uns nichts übrig, als herunter zu kommen. Da saßen die beiden dann mit in der großen Bauernstube und hörten gern zu, wenn uns die Annas
Mutter vom Teufel erzählte. Einmal erhielt Arthur vom Christkindl ein Schwebereck, welches jahrelang unser allerliebstes Spielzeug war. Es hing fast ständig von der Stübeldecke herunter und wurde als Zimmerschaukel
benützt. Es erscheint mir heute wie eine Vertreibung aus dem Kinderparadies, wenn ich an Arthurs Aufnahmsprüfung im Leipaer Gymnasium zurück denke. Ich begleitete ihn und er hatte aus Angst eiskalte Hände, als er
dann allein die Stiege zu dem ernsten Gebäude hinaufschritt. Wie alles nur allzu schnell im Leben dahin geht, so schlossen sich eines Tages auch die acht Türen der Lateinschule für unseren Gymnasiasten und er stand vor
der Frage: Was nun? Es gab eigentlich kaum ein Überlegen. Er inskribierte sich an der Wiener Universität zum Studium seiner Väter. Mir ist heute noch weh ums Herz, wenn ich daran denke, wie der edle, herzensgute Arthur
in der fernen Hauptstadt das schwere Studium mutterseelenallein mit geringen Mitteln zum erfolgreichen Abschluß gebracht hat. Zu seiner Promotion fuhr sein getreuer Bruder Arnold nach Wien, derweil Mariechen daheim nach
Willis Geburt im Fieber lag. Arnold equipierte den neu ernannten Dr. med. vom Scheitel bis zur Sohle. Darauf tranken die beiden im Wiener Ratskeller auf die erreichte akademische Würde. Arthur schilderte wie
eindrucksvoll es für ihn gewesen sei, unter den Zuschauern seinen lieben Bruder Arnold gesehen zu haben, der so strahlend voll Liebe zu ihm herauf geblickt habe. Noch einmal fuhren die beiden in die Welt hinaus. Sie
besuchten Hamburg, Kopenhagen und kamen mit dem Schiff bis nach Malmö in Schweden. Arnold war Finanzminister und zeigte seinem Bruder das Meer und nordisches Land. Ein herrliches Gefühl trugen beide bei ihrer Heimkehr
im Herzen. Ich möchte noch hinzufügen, wie viel Liebe Arthur meinen beiden Kindern Putschel und Adelchen entgegen brachte, die unter seinen Augen beide das Licht der Welt erblickten. Er war Karls rechter Pate und
Mentor, Adelchen aber sein Verzug. Beide hingen wie die Kletten an ihm, während der kleine Ottl ihm täglich die Miezen als Beweis seiner Anhänglichkeit ins Bett brachte. Arthur spielte gern auf seiner Geige. Seine
Lieblingsdichter waren Lenau und vor allem Fritz Reuter, dessen herrliche Dichtungen ich als ein Vermächtnis meines geliebten Bruders betrachte. Unseres Lieblingsbruders Dienstzeit als Sekundärarzt im St. Josephs
Kinderspital in Wien wurde mit einem Blumenkranz beschlossen, dessen Schleife die Aufschrift trug:
„Dem pflichtgetreuen Arzte.“
Er schläft seither am Friedhof in Wolfersdorf bei seinen Eltern.
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11. Kapitel
Maria Josepha Elisabeth
Marienkind ein Sonnenkind
Während einer Schillerfeier in
Wolfersdorf wurde unser liebes Nesthäkchen als sechstes Kind am 12. November 1883 geboren. Die Geburt ging gut vorüber, jedoch die Nachgeburt war wieder, wie bei den beiden vorher geborenen Mädchen angewachsen. Unsere
liebe Mama, welche stets sehr tapfer alle Geburtswehen ertragen hat, soll bei dieser ihrer letzten Entbindung während der Nachgeburtslösung schwer gelitten haben. Sie war 31 Jahre alt und schwebte lange Wochen hernach,
an einem Wochenbettfieber darniederliegend, in größter Lebensgefahr. Der Engel aus dem Schattenlande stand einige Male an der Zimmertür auf der Schwelle, kehrte jedoch Gott sei Dank ohne anzuklopfen wieder um, während
Papa auf der Oberstube an Großels Halse hing und heiße Tränen weinte. Die gleichmäßige Ruhe der ernsten Frau Mutter, die während eines langen Lebens schon manchen harten Schicksalsschlag erlitten hatte, wirkte
beruhigend auf den verzweifelten Schwiegersohn und behandelnden Arzt. Für uns drei Geschwister war die Ankunft eines kleinen Schwesterchens eine große Freude. Sie wurde uns auf der oberen Stube mitgeteilt, während
wir mit einem jungen, schwarzen Hundel spielten, den uns Papa am Abend zuvor in einem roten Schnupftüchel eingebunden von Patienten aus dem Neudörfel mitgebracht hatte. Es war der Purzel. Allen anderen voran rannte ich
als erste die Stiege hinunter, um das neu angekommene Kindl zu sehen. Es lag im halb verdunkelten Stübel im Kinderkorbe, ein rosiges schlafendes Puppi, an dem ich mich nicht satt sehen konnte. Mir scheint ich blieb an
jenem Tage immerzu neben dem Körbel stehen und wollte etwas zu tun haben fürs Schwesterlein. Ich erinnere mich, daß das Großel sagte, ich solle die in einem danebenstehenden Korbe liegenden Windeln zusammenlegen.
Während der Nacht brannte ein Nachtlicht. Um die Mama im Schlafe nicht zu stören, trug die Böhmische (die Schwägerin der Soben Anna, welche ihr Bruder Stefan in Melnik geheiratet hatte), die ganze Nacht unser liebes
Büschelkind auf ihren Armen auf und ab, immer hin und her durch Wochen hindurch. Trotz der schweren Wochenkrankheit hat die liebe Mama ihr Jüngstes acht Wochen hindurch gestillt, geliebt und betreut. Es war eine
Kaffeetaufe, zu welcher vier Nachbarinnen als Patinnen bestellt wurden. Als rechte Patin war Frau Oberlehrer Emilie Kunert ausersehen worden, außerdem die Müllersfrau Elisabeth Hentschel, die Gastwirtin Frau Marie
Gürtler von nebenan und Frau Franziska Hölzel, Drahtwebers Ehehälfte. Auf Mamas Wunsch wurde ihr Töchterlein auf den Namen Maria Josepha Elisabeth getauft, beider Großmütter zum Gedenken. Unsere Jüngste wurde zur Taufe
in die Kirche getragen. Papa war nicht so ganz mit dem Taufnamen einverstanden, daher ging er in letzter Erwägung den Kirchberg hinauf. Später erzählte er spaßig, daß er mit neuen Vorschlägen zu spät gekommen war, denn
vor seinen Blicken öffnete sich die Kirchenpforte und die vier Patinnen kamen mit dem kleinen Marseffel schon heraus. Ein viertel Jahr blieb diesmal das gute Großel bei uns, bis die liebe Mama das Bett wieder verlassen
konnte. Das kleine Mariechel wurde mit Kakaoschale und Kinderzwieback ernährt. Es gedieh prächtig. Als Kindermädchen war die Hugo Marie aus Steinschönau aufgenommen worden. Außerdem beaufsichtigte jetzt die liebe Mama
selbst ihre drei größeren Kinder. Für mich bleibt es ein unvergessenes Bild, wie sie mit einem blassen, schmalen Gesicht, angetan mit einer schwarz und weiß karierten Wolljacke auf dem ledernen Kanapee im Wohnzimmer
saß, die lange Pferdepeitsche in der Hand. Vier Wochen vor dem ersten Jahr stand unser Mariechel fest auf ihren Beinchen und lief zur großen Überraschung aller in einem dunkelgrünen Strickkleidel einem Strohhalme
nach, den die Hugo Marie ihr vorhielt. Von klein auf war sie ein sehr hübsches Kind, ganz ähnlich dem Marilenchen im Bilderbuch. Das hatte auch unser Spielkamerad, der Zincke Paul gespannt, als er eines Tages zu seinem
Vater dem Vetter Emil sagte: „Vater wenn wir nur auch so ein Modl hätten!“, denn Modl war ihr erster Kosename. Noch auf dem Arme getragen, wurde Mariechen bereits auf Reisen mitgenommen. Einmal in Dresden auf der
Vogelwiese hatte die Soben Anna im Gedränge den Anschluß an die Familie verloren. Ziellos und voll Angst irrten die beiden unter den Menschenmassen umher. „Lieber Mama sein“, hatte Mariechen schon einige Male gesagt. Da
erkannte die besorgte Mama an Mariechens Hutband mit Hufeisen die Verlorenen, während Papa auf der Polizei vergebens gesucht hatte. Unser Nesthäkchen war ein gar sonniges Kind. Weil es von klein auf alle möglichen
Lieder sang, benannte Mama das Mariechen „Immersang“. So stand Immersang schon als Kind auf einem Stuhl und sang in Parchen oder wenn Besuch gekommen war ohne Scheu wie eine kleine Primadonna. Vom Christkindl bekam
sie einmal eine wunderschöne Puppe mit Schlafaugen, die Mama und Papa sagen konnte, dennoch spielte sie am liebsten mit unserer alten Katze, der sie ein rotes Röckl anzog, das sie einst selbst getragen hatte und die
Milch aus einem Töpfchen trank und im Puppenwagen ausgefahren wurde. Die Schule sowie das Anziehen warmer Überkleider wurde nicht mehr so tragisch genommen. Die kleine Rieche kam gleich in das neue, große Schulhaus,
ging sogar in kalter Jahreszeit zumeist ohne Wintermantel, während ich in einem Pelz ausrückte. Nach der ersten Religionsstunde wollte Papa wissen, was der Herr Pfarrer vorgetragen hat. Antwort: „Heute hat uns der Herr
Pfarrer eine große Lügengeschichte erzählt“. Es war die Geschichte von Adam und Eva gewesen, von der Schlange und der Vertreibung aus dem Paradies. Unser Mariechel hatte sehr viele Freundinnen, ich glaube, es waren
oft mehr als zehn im Wildgarten, wo es sich herrlich spielen ließ. Ihre beste Freundin war die Hahnel Rieche, mit welcher sie bis vor kurzem in Briefwechsel stand. Bei der Familie Hahnel verbrachte Doktors Rieche frohe
Stunden nach der Schule. Das Hahnel Haus lag am Berge, hatte ein Gasthaus, Krämerei, etwas Landwirtschaft und einen kleinen Tanzsaal. Unsere Eltern waren die beste Kundschaft im Laden. Im Gasthaus verkehrten der Herr
Pfarrer und die Lehrer. Während eines Singspiels von Kny, „Frühlingsfeier“ betitelt, wirkte Mariechen in einem weißen Kleidl mit und war in offenem Haar, den Frühling verkörpernd, die Schönste von allen. (Kny war ein
Freund von Otto Sebastian Lorenz: Pianist und Komponist.) So kam auch ihr Pensionsjahr heran und zwar im schönen Dresden, wo sie ihre Klavierstunden fortsetzte und außerdem Gesangsunterricht erhielt, die Oper
besuchte, Ausflüge in die Sächsische Schweiz im Kreise der Pensionärinnen machte und in Hannchen Liebscher eine gute Freundin fand. Einmal sang Pensionärin Mariechen sogar im Gewerbehaus. Selige 16 Jahre waren
inzwischen für unser Nesthäkchen herangekommen, damit ein wolkenloser Jungmädchenfrühling. Bei Besuchen in Sebastiansberg im Bezirksgericht verdrehte die gefeierte Nichte allen Männern durch ihren Gesang, die
strahlenden Augen und ihr heiteres Wesen die Köpfe, wozu außer dem feschen Lehrer der junge Pfarrer getreten war. Weitere Triumphe folgten in Leipa, wo sich auf einem Ball die Gebrüder Künstner gleichzeitig in Mamas
Sternchen verliebten, so daß sie sich nachher in den Haaren lagen. Sieger blieb Hans der Majoratsherr und Nachfolger der großen Buchdruckerei. Als 20jährige Braut, welcher die Götter so viel weibliche Reize und einen
immer währenden Charme in die Wiege gelegt hatten, feierte sie mit dem jungen Chef der Firma im Gasthof „Himmel“ zu Leipa eine kindlich frohe Hochzeit. Die Hochzeitsreise ging nach Berlin. Sodann blieb sie weiter in
treuer Liebe ihrer Eltern Sonnenkind und machte ihnen viel Freude. |
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